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Von Weitem sehe ich die Gruppe an Menschen, die sich vor einem Haus versammelt. Alle schauen zu Boden. Gunter Demnig kniet auf dem Gehweg der Grafenstraße und setzt einen goldenen, viereckigen Stein mit Inschrift zwischen die Pflastersteine. Ich höre die Biografien derer, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden und nun durch einen Stolperstein in Erinnerung bleiben sollen.

Wer durch die Darmstädter Innenstadt läuft, sieht auf dem Boden immer wieder matt golden schimmernde Vierecke mit eingravierter Inschrift aufblitzen, die zum Nachdenken anregen. Die ins Trottoir eingelassenen Stolpersteine liegen meist an den Orten, an denen die Menschen, deren Namen auf den Steinen stehen, wohnten und lebten. Sie verzeichnen Geburts- und Sterbedaten und erinnern damit an grausame, individuelle Schicksale. Bei Widerstandskämpfer:innen wird zudem oft vermerkt, dass sie sich dem Nationalsozialismus widersetzten und wann sie inhaftiert wurden.

Vor 20 Jahren, am 11. April 2005, wurden die ersten zehn Stolpersteine in Darmstadt verlegt, von der Stadt (oder von Pat:innen) finanziert und vom Kulturamt organisiert. Ab 2008 begannen dann Jutta Reuss und Dorothee Hoppe, damals im Verein Darmstädter Geschichtswerkstatt, selbstständig in den Archiven Darmstadts weitere Schicksale zu recherchieren. Heute sind es zehn Mitglieder, die ehrenamtlich beim „Arbeitskreis Stolpersteine“ arbeiten. Bei jeder Verlegung tragen sie die Biografien der Opfer vor und erinnern an ihre Schicksale – so wie an diesem Montagvormittag.

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Oberbürgermeister Hanno Benz und Gunter Demnig | Foto: Nouki

„Ein Denkmal für alle Opfer“

Angekommen am ersten Treffpunkt dieser Stolpersteinverlegung, vor dem Haus Grafenstraße 19, quetsche ich mich durch die Menschentraube aus einer Schulklasse und älteren Menschen, um zu beobachten, wie Gunter Demnig den ersten Stein der heutigen Tour in den Boden setzt. Im Hintergrund höre ich den Geschichtslehrer der Klasse, wie er seinen Schüler:innen erklärt, wer Demnig eigentlich ist und warum es so besonders ist, dass er heute dabei ist. 1992 verlegte der Künstler Gunter Demnig den ersten Stolperstein Deutschlands vor dem Kölner Rathaus. Er erinnert an die Ermordung der Sinti und Roma. Genau wie jüdische Menschen wurden sie im Nationalsozialismus entrechtet, zwangssterilisiert und anschließend in Konzentrationslager deportiert. „Es ist ein Denkmal für alle Opfer“, sagt der 77-Jährige, „für Juden, Roma und Sinti, aber auch für Homosexuelle und Widerstandskämpfer – für alle, die im Zweiten Weltkrieg ermordet und verfolgt wurden.“ An diesem Tag werden 18 weitere Denkmäler verlegt, somit gibt es in Darmstadt – neben zwei Stolperschwellen – 443 Stolpersteine, in ganz Deutschland sind es um die 90.000. Jeder dieser Steine kann verlegt werden, weil Bürger:innen sich für eine Patenschaft entscheiden.

Verwandte, Nachkommen, Privatpersonen, Vereine oder Initiativen: Sie alle wünschen sich einen von Demnig gefertigten Stein. Altersbedingt gestaltet er jedoch nur noch selten selbst die Steine in seinem Kölner Kunst-Atelier. Wie an diesem Tag in Darmstadt ist er ab und zu bei der Verlegung der Steine dabei, er hält Vorträge und gibt Interviews. In seinen Arbeitsklamotten und seinem braunen Wildlederhut kniet er sich auf den Boden und lässt den Stein in die Bodenlücke ein, darum herum gegossener Beton stabilisiert den kleinen Gedenkquader, sodass die nächsten Fußgänger:innen – in übertragenem Sinne – darüber stolpern und aufmerksam werden.

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Bewegende Lebensgeschichten

In der Grafenstraße werden insgesamt fünf neue Steine verlegt, mit Rosen dekoriert und die Lebensgeschichten der Opfer erzählt. Die Mitglieder des Arbeitskreises Stolpersteine recherchierten vorab in den Archiven Darmstadts nach Informationen zu den Menschen oder setzten sich mit Angehörigen und Zeitzeugen in Kontakt. Wo und wie haben sie gelebt? Wer waren Freunde und Familie? Wie war ihr Leben während und vor dem Nationalsozialismus? Es dauert oft Jahre, bis die ehrenamtlichen Forscher:innen die Daten und Informationen erfasst haben, um die Geschichten erzählen zu können. An der Ecke Grafenstraße-Bleichstraße bleiben wir stehen. Hier ist eine Gedenktafel für eine Synagoge der orthodoxen, jüdischen Gemeinde aufgestellt, die in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 vollständig zerstört wurde. Hier werden nun die Steine für Fanny Lorge und Rachel Oppenheimer eingesetzt – sie waren Teil dieser Gemeinde. Von hier aus wurden die beiden Schwestern ins Konzentrationslager nach Theresienstadt deportiert. Heute stehen wir hier, um ihnen zu gedenken.

Apelle und Stille

Von der Kreuzung aus laufen wir zum Julius-Landsberger-Platz, der nach dem ersten Rabbiner der Synagoge benannt ist. Demnig wird mit dem Auto gefahren, weil er nicht mehr gut laufen kann. Er ist stille Hauptfigur – wartend im Auto, bis es zu seinem Auftritt kommt und er den nächsten Stein verlegt. Doch bevor er das tut, richtet sich Oberbürgermeister Hanno Benz mit ein paar Worten an die Gruppe. Genau wie sein Vater Peter Benz, der die Verlegung der ersten zehn Stolpersteine 2005 als Oberbürgermeister begleitet hat, erinnert er an die Menschen, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Mit Blick auf die aktuelle politische Lage appelliert Benz, dass diese Zeit nicht noch einmal geschehen dürfe. Er macht auf aktuelle Konflikte wie die Situation in Gaza aufmerksam und drückt sein Bedauern aus. Die Stimmung aller, die bei der Tour teilnehmen, ist bedrückend, alle sind nachdenklich. Für einen Moment wird es ganz still. Nur der Wind bläst durch die Bäume und lässt die Blätter rascheln.

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Sichtbarkeit schaffen

Wir laufen weiter zur Gagernstraße, Gunter Demnig im Auto hinterher. Während der Arbeitskreis die Geschichte von Max Meir Stein vorstellt, bleibt Demnig im Auto sitzen. Er erzählt mir seine Erfahrungen von Hass und Morddrohungen, die er während seines Schaffens erhalten hat. „Diskrimierung, Rassismus und Antisemitismus gibt es immer noch – und der Hass wird stärker. Die Gruppen, die damals zu Opfern wurden, werden bis heute diskriminiert“, beklagt der Künstler. Weil er sich offen für sie einsetzt, ist er auch mit Hass und Hetze konfrontiert. In den letzten 30 Jahren habe er drei Morddrohungen erhalten, sagt Demnig. Das hat ihn nicht davon abgehalten, die Namen der Opfer weiterhin sichtbar zu machen. „Viele von ihnen haben keinen Grabstein oder Denkmal. Deshalb ist es wichtig, dass ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten.“ Mit den Stolpersteinen werden sie wieder sichtbar.

Weil die Messing-Oberfläche der 96 × 96 Millimeter großen Steine mit der Zeit verschmutzen, übernehmen Schulklassen und freiwillige Bürger:innen – auch in Darmstadt – Putzpatenschaften oder organisieren Touren, bei denen die Stolpersteine regelmäßig gereinigt werden. So sorgen Menschen wie Gunter Demnig, Initiativen wie der Arbeitskreis Stolpersteine und viele andere Engagierte dafür, dass die Opfer nicht vergessen werden und Passant:innen bei jedem Stein die Gedanken stolpern lassen.

 

Engagiert Euch!

Wer helfen möchte, Biografien der Opfer des mörderischen Nazi-Regimes zu recherchieren, oder wer Putzpatenschaften für Stolpersteine übernehmen möchte, der melde sich gerne per Mail beim Arbeitskreis Stolpersteine in Darmstadt: Stolpersteine.Darmstadt.Putzen@web.de

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