Foto: Jan Ehlers

Trostloses Gekicke in der Regionalliga Süd vor 2.500 Zuschauern im Städtischen Stadion am Böllenfalltor. Legendäre Pokalabende gegen Freiburg und Schalke vor knalle ausverkauftem Haus – weit vor damals absolut utopischen Bundesliga-Abenteuer-Zeiten. Eine unvergessene „Süddeutsche Meisterschaft“ mit dem 4:0 gegen Memmingen am 28. Mai 2011 mit beeindruckender Wimpel-Choreo. Und seitdem eine Entwicklung, die selbst der kühnste Optimist nicht vorausahnen konnte. Im Winter 2018/19 – und ebenso unvorstellbar vor wenigen Jahren – hieß es dann: Goodbye, Gegengerade! Abriss. Weg. Bedeutete: acht Heimspiele im Exil, als Gegengerade-Nomade auf mir bis dato unbekannten Tribünen, bis der Stehplatz-Bereich der neuen Gegengerade endlich wieder steht. Meine schlimmste Zeit am Bölle? Nur fast.

 

Di, 29. Januar, 20.30 Uhr: Darmstadt 98 – FC St. Pauli 2 : 1

Ein harter Einschnitt. Dienstagabend, Fluchtlichtspiel, Gästeblock pickepackevoll. „SV 98 immer Europapokal“-Stimmung. Und ich sitze im F-Block und blicke auf einen imposanten Sandberg. Darauf stand mal meine Gegengerade. Meine! Der Erfolg frisst halt seine Kinder. Etwas bescheidener formuliert: Ich vermisse meinen Wohlfühlort am Bölle ganz, ganz doll! Die Pauli-Fans stört die Baustelle neben sich wenig. Der kastrierte Rest, der von der altehrwürdigen Riesen-Stehtribüne noch übrig gelassen wurde, ist braun-weiße Partyzone. Als kurz vor der Halbzeit Ryō Miyaichi die St. Paulianer in Führung köpft, beginnen die ersten Darmstädter Superfans im F-Block zu meckern. Ich verziehe mich auf die Süd-Tribüne. Halbzeit zwei läuft besser, die Lilien drehen das Spiel innerhalb von acht Minuten, der Ultra-Dauer-Support dauer-supportet. Beide Tore zum 2:1-Endstand sehen ich im Daumenkino-/Stakkato-Modus: Fahne im Sichtfeld – keine Fahne im Sichtfeld, Pass – Fahne im Sichtfeld – keine Fahne, Schuss – Fahne – Tor. „Wieso wurde die Süd eigentlich so flach gebaut?“, frage ich mich immer wieder, auch angesichts meiner verzerrten Perspektive aufs Spielfeld. Hat wohl was mit der Statik zu tun, denke ich: Wenn alle gleichzeitig hüpfen, braucht es ein großflächiges Fundament, damit die Stahlrohrtribüne nicht von selbst weghoppelt. Gut sehen kann man hier aber nicht.

 

So, 10. Februar, 13.30 Uhr: Darmstadt 98 – 1. FC Heidenheim 1 : 2

Ich gebe der Südtribüne eine zweite Chance, diesmal weiter außen, näher an meiner alten Bölle-Heimat. Das Wetter ist murks, das Spiel verläuft unglücklich, ich hege destruktive Gedanken. Irgendjemand hat den Ultras erlaubt, ein Kabel vor der Tribüne zu verlegen, das in einem Megafon endet und rechts von uns auf Ohrenhöhe 90 Minuten undefinierbare Störgeräusche fabriziert: „Krsch-ohooohoo-krsch-krsch.“ Wen soll das bitteschön zum Mitsingen animieren? Ich blicke leer durch das Fangnetz und denke: „Beim Auswärtsspiel in Sandhausen fühlte ich mich auch nicht wesentlich unwohler.“

 

Sa, 23. Februar, 13 Uhr: Darmstadt 98 – Dynamo Dresden 2 : 0

Schuster’s gone, Gerüchte brodeln. Ich sage: „Danke für diese aufregenden Lilien-Jahre, lieber Dirk!“ Interimscouch Kai-Peter Schmitz bringt Glück und wird erfolgreichster Trainer der 98er-Geschichte: 100% Sieg-Quote, 0 Gegentore. Ich vagabundiere durchs Stadion: Zu Beginn verschlägt es mich auf einen der Presseplätze (Haupttribüne Mitte, ganz oben, saukalt). Dort biete ich Dynamo-Legende Ralf Minge gastfreundlich einen Sitzplatz an, was dieser nur mit einem müden Lächeln quittiert. Dann fachsimpeln wir gekonnt über Schiedsrichter-Entscheidungen („ui, klares Foul“ – „auf keinen Fall“) und verabschieden uns kurz vor der Halbzeit einvernehmlich („… gutes Spiel noch!“ – „Na, kann nur besser werden, auf beiden Seiten.“). Ich schaue noch kurz im S-Block (Haupttribüne Mitte, unten, kalt) bei meinen Eltern vorbei – und prompt bekommen die Lilien einen dieser Handelfmeter zugesprochen, die den Fußball auf Dauer lächerlich und kaputt machen werden. Zweite Halbzeit: das wirklich allerletzte Mal auf der Süd. Mein Kumpel Daniel und ich schaffen es, uns mehrmals scheinbar gezielt zu verabreden, aber nicht zu finden. Wir schicken uns via „WhatsApp“ Fotos unserer Perspektive aufs Spielfeld zu. Die Bilder sehen praktisch deckungsgleich aus. Wir finden uns trotzdem nicht. Am genussvollen Konsum der Hopfenkaltschale kann’s nicht liegen. Diese unübersichtliche, viel zu flach gebaute Stahlrohrtribüne ist schuld. Das is‘ mal klar wie Kloßbrühe!

 

Fr, 22. Februar, 11.23 Uhr, im P-Homeoffice am Schlossgartenplatz (dort, wo die Lilien vor 121 Jahren erstmals erblühten):

Die neue Gegengerade wirft – nicht sichtbar, aber organisatorisch – ihre Schatten voraus. Wir von der alten Gegengerade (Höhe Sechszehner, halbhoch) gründen den Fanclub Cestonaros Erben. Damit wir uns geschlossen für „den neuen Stimmungsblock G2“ auf der neuen „GG“ anmelden können. Ein Formular anstelle von 25 Einzelanträgen. Unser Eintrag verstärkt dann aber doch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich spüre erstmals so etwas wie Vorfreude aufs „neue Bölle“ in mir aufsteigen.

 

Sa, 09. März, 13 Uhr: Darmstadt 98 – Holstein Kiel 3 : 2

Noch eine Premiere: Zum allerersten Mal laufe ich nach dem Einlass linksherum hinter der Haupttribüne entlang. Heute wird mein erstes Mal auf der Nordtribüne. Urteil, vorweggenommen: überraschend laut, nette Leute, super Sicht. Aber das ganze Spiel über sitzen? Geht auf gar keinen Fall! Die Sitznachbarn sind von meiner häufigen Hochschnellerei bisweilen genervt, doch am Ende wird resümiert: „Ihr von der Gegengerade bringt echt Bewegung und Stimmung auf die Nord.“ Selbst meine Mutter – die gerne kritisierte, dass die Gegengerade „heute wieder viel zu leise“ gewesen sei – bestätigt diese Aussage ungefragt. „Gegengerade küsst Nord wach“ könnte die Überschrift im Montags-Echo lauten. War dann aber vermutlich eher so etwas wie: „Gelungene Heimpremiere für den neuen Lilien-Coach Grammozis“ oder „Feine Treffer von Mehlem, Dursun und Franke“ oder – prophetisch – „Der Beginn einer Erfolgsstory“. Denn die nächsten Wochen werden eine Lilien-Berauschung. Auswärts und auch daheim am baustelligen Bölle, das ich so langsam beginne, lieb zu gewinnen.

Foto: Jan Ehlers

 

Sa, 30. März, 13 Uhr: Darmstadt 98 – Jahn Regensburg 1 : 1

Ich bin wieder auf der Nord, Block N 1, ganz oben bei Jens und Ralle, zwei von Cestonaros Erben. Habe mir am Tag vor dem Spiel die „FastTrack“-App aufs Handy geladen und versehentlich sofort zwei Bier bestellt. Ob die schon am Platz stehen, wenn ich ins Stadion komme? Tun sie leider nicht. „Die App funktioniert heute leider nicht, wir sind da noch am Testen“, erklärt die nette junge Frau am Getränkestand auf Nachfrage. „Ahh, sie haben schon per Paypal bezahlt? Hier sind ihre zwei Pils, bitteschön.“ Grandios! Ich wurde schon unfreundlicher empfangen im Böllenfalltorstadion. Dann ein kurzer Schreckmoment: Dirk Schuster wird als Trainer auf der Stadionleinwand eingeblendet (ist aber nur virtuell anwesend) … und auf der Gegengerade-Baustelle ist ein wunderschöner, zwei Meter hoher „B Ö L L E N F A L L T O R“-Schriftzug aus Holzbuchstaben aufgebaut. Ja, was ist denn heute hier los? Auch das Lilien-Team spielt hollywoodmäßig auf, verpasst aber ein wiederholtes Happy End vorm Tor. Dankeschön an Roy von der Lilien-FUFA für die großartige „Böllewood“-Idee, Schreinermeister Markus Köhres fürs Schreinern, Philip Wanders vom CNC Kommando, Jürgen Steer vom FFA und den Jungs von Çarşı Darmstadt fürs Dabeihelfen sowie allen beteiligten Gegengeraden-Fanclubs fürs Aufstellen. Kam auch im „Sportschau“-Bericht supergut rüber! Bitte den Schriftzug konservieren und irgendwie ins neue Bölle integrieren!

 

So, 21. April, 13.30 Uhr: Darmstadt 98 – VfL Bochum 0 : 0

Kann mir jemand mal die Nummer von dem DFL-Fuzzi besorgen, der dafür zuständig ist, dass am Ostersonntagmittag am Bölle ein wichtiges Fußballspiel angepfiffen wird? Ich muss dem mal einen Gernot-Hassknecht-Anruf auf die Ohrmuschel zimmern! Schon beim Betreten des Stadions fühle ich mich fehl am Platz (bin wieder auf der Nord), treffe so wenige mir bekannte Menschen wie noch nie am Bölle – und dann tue ich es: Sitze faul auf meinem Hintern in Block N2, blinzele in die Frühlingssonne und bestelle per „FastTrack“-App zwei Bier und zwei Wasser für mich und Sitznachbar David. Innerhalb von fünf Minuten schweben die perfekt gezapften Pilsbiere und ebenso kühles Wasser in unsere wie von Geisterhand ausgestreckten Hände. Ein schönes Trinkgeld für die blutjunge Getränke-Service-Kraft springen lassen … und dann: „Prost“. Sehr komfortabel. Aber auch ein bisschen dekadent … und langweilig. David und ich erzählen uns, welche entscheidenden Tore wir schon an welchem Bierstand wartend verpasst haben – und freuen uns drüber wie kleine Kinder auf dem Bolzplatz beim Kicken im Sommerregen. „Das gehört doch irgendwie dazu, das ist Fußball“, lege ich Fußballromantiker Pep Gardiola, gedanklich in den Mund. Ich konnte ihm in den Pressekatakomben des Bölle mal eine Liebeserklärung an den wahren Fußball entlocken. Damals, als „noch mal feucht durchgewischt wurde“, weil die Bayern zum Gastspiel kamen. Das Ostersonntag-Spiel 2019 läuft passend zum Drumherum: Sommerfußball. 0:0. Der Klassenerhalt ist zum Greifen nah. Auch gedanklich müde schlurfe ich nach Hause.

 

So, 05. Mai, 13.30 Uhr: Darmstadt 98 – Union Berlin 2 : 1

Nach einem unvergesslichen Auswärtsspiel in Köln – Freitagabend, Flutlicht, ausverkauftes Haus, erster Sieg jemals gegen Köln, das auch noch auswärts, Klassenerhalt klar gemacht – empfängt mich das Bölle zum gefühlten Saisonausklang. Die Gegengerade-Baucam lässt schon vorab erkennen, dass die Fundament-Blöcke für die neue Gegengerade bereits im Boden verankert sind. Der „B Ö L L E N F A L L T O R“-Schriftzug ist aus Platzgründen zu einem nicht weniger smarten „B Ö L L E“ geschrumpft. Nach meiner Event-Fan-in-der-Komfortzone-Episode am Ostersonntag brauche ich heute: Fankultur pur! Die erste Halbzeit verbringe ich stehend im A-Block auf der Haupttribüne, obere Hälfte. Ich erinnere mich, wie dieser Block explodierte, als Abdelaziz Ahanfouf am 16. April 2011 in der 88. Spielminute zum 3:2 gegen Hessen Kassel traf (nach 0:2-Rückstand). Das war „This is Bölle Hölle“! Es ging (nach diesem Spiel wieder) um den Aufstieg – aus der Regionalliga Süd in die 3. Liga. Am 05. Mai 2019 geht es für die Lilien nur noch um die Höhe der TV-Einnahmen und im A-Block eher gediegen zu. Das sonore, kraftvolle „Come on you boys in blue“ unterstreicht die englische Prägung dieses Fanblocks. Gegner und gegnerische Fans gelten hier wahlweise als „Mickey Mäuse“ oder schlicht „Iddioode“. Fabio meckert unverblümt über die Haltung vieler Zuschauer, Fußball nur noch zu konsumieren und träumt gleichzeitig davon, „einmal im Leben mit den Lilien im Europapokal zu spielen – am liebsten gegen den AC Turin“. Man muss wissen: Fabio ist Lilien- und Juve-Fan. Konträr zur neuen Gegengerade wird im A-Block oben gestanden und unten gesessen. Die von oben singen die da unten an: „You only sing when you’re sitting!“ Dann meldet sich plötzlich der Fußballgott bei mir zurück. In der 49. Spielminute trifft Yannick Stark nach schönem, grammozis-eskem Angriff zum 1:0. Doch da stehe ich noch am Bierstand. Ich bin zufrieden. Endlich mal wieder ein Tor verpasst! Auch das 2:0 sehe ich nicht wirklich. Denn die zweite Halbzeit über bibbere ich mit rund 50 anderen Lilien-Nerds zwischen Haupt- und Südtribüne hinter/unter/seitlich der Anzeigentafel und linse schräg ins Stadion hinein. Freistoß, Flanke kommt rein, Mathias Wittek köpft … dann sehe ich nur noch „die Süd“ von der Seite. Pause. Warten. Tor-Jubel! Der war wohl drin. Etwas surreal hier, aber witzig. Den Fangesang „Eisern Union“ textet Gerry kurzerhand zu „Nur Cheese and Onion“ um. Gerry hat unzählige Songs über die Lilien geschrieben, sein großartigster – „Ich glaube an den SVD“ – lief leider noch nie am Bölle. Stadionregie, bitte mach was! Zurück zum Spiel: Daniel Heuer Fernandes hält wieder mal heldenhaft, die Lilien besiegen den nächsten Aufstiegsaspiranten. Wie wäre die Saison wohl zu Ende gegangen, wenn Grammozis fünf Spieltage früher Trainer der 98er geworden wäre?

 

So, 19. Mai, 15.30 Uhr: Darmstadt 98 – FC Erzgebirge Aue 1 : 0

Ich nehme Abschied von einer aufregenden, am Ende aber dann doch entspannten Saison. Die neue Gegengerade lässt sich immer mehr erahnen. Nach einem Artikel über „Donges baut 400-Tonnen-Stahldach für die Gegengerade“ im Echo frage ich mich: „Wurde bei der neuen Dachkonstruktion am falschen Ende gespart?“ Die sah im Entwurf der Architekten so schön leicht, fast filigran aus, musste aus Kostengründen aber vereinfacht werden. Mal abwarten. So oder so: Meine Odyssee durchs Böllenfalltor ohne Gegengerade hat gezeigt, wie facettenreich die Fankultur am Bölle ist – und hoffentlich bleibt. Die Vorfreude auf die neue Saison sorgt bereits für Kribbeln in der Magengegend. Vielleicht stehen wir ja schon beim ersten Heimspiel auf der neuen Gegengerade, im lautstarken Block „G2“ mit Cestonaros Erben, dem Commando Amore und vielen weiteren stimmgewaltigen Lilien-Abhängigen. „Blau-weiß un‘ schee“ wär’s!

 

 

PS: Den aktuellen Stand der Bauarbeiten zeigt die Gegengerade-Baucam.