Foto: Jan Ehlers

Wer sich für eine Staycation in Darmstadt entschieden hat und in den letzten Wochen trotz Hitze & Co. in der Stadt unterwegs war, konnte sie kaum übersehen: mehrere Quadratmeter einnehmende Kreide-Schriften auf dem Boden im Herrngarten, in der Fußgängerzone oder auf Bürgersteigen der Stadt. Auf den ersten Blick denkt man an Kindermalereien – die Buchstaben sind hübsch geschwungen, bunte Farben lassen einen netten Sinnspruch aus dem Poesiealbum vermuten. Doch wer stehenbleibt und liest, dem friert das Lächeln ein. Und das ist genau das, was Lena Jacob (21) und Saskia Westerweller (22) mit ihren „Catcalls of Darmstadt“-Kreidungen bewirken wollen.

Die beiden Psychologiestudentinnen aus Darmstadt lernten sich in der Uni kennen und erfuhren dort auch zum ersten Mal vom Projekt „Catcalls of NYC“, welches Inspiration für unzählige weitere Aktionen weltweit wurde – davon mittlerweile auch mehr als 30 in Deutschland. Ein Dozent stellte es in einem Theologie-Seminar mit dem treffenden Titel „Kann denn Liebe Sünde sein?“ vor, Thema: Sexualethik. Mit ethischem Verhalten, gar mit Liebe, hat das, was Lena und Saskia seit Ende Mai auf Darmstadts Straßen und auf Instagram wortwörtlich ankreiden, aber nichts zu tun.

Es geht um sexuelle Belästigung. Aber nicht (nur) um die Fälle von Handgreiflichkeiten, von unerwünschten sexuellen Tätlichkeiten oder Übergriffen, an die wir alle schnell denken und die wir wohl alle pauschal scharf verurteilen. Sondern um die, die Außenstehende gerne mal als „harmlos“ oder als „nicht so gemeint“ abtun – aber die trotzdem Grenzen überschreiten. „Catcalls“, dieser Begriff steht ursprünglich für sexualisierte Kommentare, die einem zum Beispiel in der Stadt hinterhergerufen werden. Es geht aber auch um unangebrachte Anmachen, um exhibitionistisches Verhalten, um erzwungene körperliche Nähe in öffentlichen Verkehrsmitteln oder ungefragte, anzügliche Informationen von Fremden, um Hinterherhupen oder -pfeifen.

Catcalling wird oft als Kavaliersdelikt verharmlost

Saskia und Lena wollen uns daran erinnern, dass diese Dinge tagtäglich passieren. Und dass sie nicht in Ordnung sind, egal wie „locker“, „spaßig“ oder „nett“ sie gemeint waren: „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass sexuelle Belästigung ein Problem ist und nicht zum Alltag gehören sollte – und dafür sorgen, dass mehr Menschen darüber nachdenken und sich überlegen, wie ihr Verhalten auf andere wirken könnte“, erklärt Lena. „Viele denken nicht über die Folgen ihres Handelns nach, sie rufen aus Spaß irgendwem irgendwas hinterher und denken gar nicht darüber nach, was das vielleicht in der anderen Person auslöst.“

Etwa 50 Prozent aller Frauen und ein Drittel aller Männer wurden laut einer „Sexismus im Alltag“-Studie des Bundesfamilienministeriums schon einmal Opfer solcher Übergriffe, viele von ihnen erleben Ähnliches mehrmals im Monat. Angezeigt wurden in Darmstadt im Jahr 2018 aber nur 33, 2019 exakt 37 Fälle sexueller Belästigung – ein Indiz dafür, dass den Weg zur Polizei offensichtlich nur ein Bruchteil der Opfer geht. Dafür gibt es Gründe: Scham, Angst oder auch das Wissen, dass etwa eine Anzeige gegen Unbekannt meist ins Leere läuft. Und auch, dass viele dieser Vorfälle nicht per se strafbar sind.

Opfern eine Stimme geben

Umso wichtiger ist es Lena und Saskia deshalb (neben dem Sichtbarmachen der Problematik an sich), den Opfern eine Stimme und einen Raum für ihr Erlebtes zu geben: „Wir wollen den Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass es nicht an ihnen liegt, wenn so etwas passiert. Sondern, dass es fast jedem passiert, dass es nichts mit der eigenen Person oder dem eigenen Verhalten zu tun hat“, erklärt Saskia.

Vor allem geht es den beiden aber darum, uns daran zu erinnern, was solches Verhalten in den Opfern auslösen kann. Ein klassischer „Catcall“, etwa ein sexualisierter Kommentar über den Körper einer Person, von einem Fremden lautstark hinterhergerufen, kann gerade in jemandem, der/die schon einmal Opfer sexueller Gewalt geworden ist, Verheerendes bewirken. Aber auch für jede andere Person ist ein solcher unerwünschter Kommentar kein Kompliment, sondern einfach indiskutabel und: sexuelle Belästigung. Leider sind klassische „Catcalls“ nur die Spitze des Eisbergs. Das Bewusstsein darüber, wie folgenschwer und traumatisierend sexuelle Belästigung sein kann, wurde beiden durch ihr Psychologiestudium noch verstärkt.

Wer sich nur die Kreidungen auf der Straße durchliest, ist oft schon geschockt oder angewidert – kann aber meist nur grob erahnen, was der jeweiligen Person, die ihre Geschichte per Instagram-Nachricht an Saskia und Lena geschickt hat, genau widerfahren ist. Die gesamte Geschichte kann man auf dem Instagram-Kanal nachlesen – dort posten die Studentinnen zweimal am Tag Bilder ihrer Kreidungen, zusammen mit Screenshots der eingegangenen Nachrichten. Besonders heftige Geschichten sind mit einer Triggerwarnung versehen, auf der Straße werden bestimmte Begriffe außerdem zensiert, sodass Kinder sie nicht verstehen können. Aber auch die „harmloseren“ Erlebnisse machen wütend, traurig oder fassungslos.

„Dabei sind übrigens auch Nachrichten von Männern“, betont Lena: „Für die meisten Menschen ist sexuelle Belästigung ein Problem von Frauen, aber das stimmt nicht. Deshalb ist uns wichtig, dass allen klar ist, dass unsere Seite nicht nur für Frauen ist. Jede*r kann uns seine Erlebnisse schreiben.“

Foto: Jan Ehlers

 

Der Hinweis auf Belästigung als Belästigung?

Mehr als 100 Kreidungen haben Lena und Saskia bisher gemacht, dafür treffen sie sich bis zu dreimal die Woche. Solo kreiden wollen sie nicht mehr gehen, da man sich zu zweit einfach sicherer fühlt und stärker auftreten kann – denn auch, wenn die meisten Menschen lobend und anerkennend auf die Aktion reagieren, nicht immer sind die Kommentare von Passant*innen positiv: „Es kommt vor, dass die Leute nicht gut finden, was wir tun. Etwa, weil sie finden, das würde das Stadtbild kaputt machen, oder es sei Belästigung, dass sie so etwas lesen müssen, wenn sie durch die Stadt laufen. Das sind dann leider auch oft Menschen, die das eher im Vorbeigehen sagen, mit denen man sich gar nicht richtig darüber auseinandersetzen kann“, erzählt Lena. „Aber wenn es zu Diskussionen kommt, laufen diese eigentlich meist ganz gut, weil die Leute dann verstehen, worum es uns geht.“

Legal ist das Kreiden im öffentlichen Raum ohnehin. Bei der Wahl des Ortes einer Kreidung bleiben Saskia und Lena ähnlich realitätsnah wie beim Wortlaut der eingegangenen Nachricht. „Manchmal geht das natürlich nicht, weil es etwa nicht im öffentlichen Raum passiert ist. Aber wir versuchen schon immer da zu kreiden, wo es passiert ist“, sagt Lena. Saskia fügt hinzu: „Wir haben auch schon Nachrichten mit der Bitte bekommen, es nicht an diesem Ort zu schreiben, damit die Person, die in dieser Erfahrung der Täter/die Täterin ist, nicht versteht, dass es um sie geht. Da halten wir uns dann zum Schutz der Person, die mit uns Kontakt aufgenommen hat, natürlich dran.“

Die schiere Menge der Nachrichten, die die beiden bekommen – durchschnittlich drei am Tag, es hat sich eine regelrechte Warteliste angestaut – ist nicht nur traurig, sondern stellt die Studentinnen auch vor organisatorische Schwierigkeiten. Mittlerweile haben sie deshalb helfende Hände, die manche Kreidungen übernehmen. Den Instagram-Account jedoch werden sie erst einmal nicht aus der Hand geben: „Auch weil wir nicht mit dem Vertrauen der Opfer spielen wollen“, sagt Saskia. „Es sind ja schon sehr intime Geschichten, die sie uns schicken. Außerdem können wir damit sicherstellen, dass diejenigen, die sich uns anvertrauen, auch wirklich anonym bleiben.“

Vertrauen und Sichtbarmachung

Das ist für die Betroffenen ebenso wichtig wie das Gefühl der Sichtbarmachung. „Die meisten bedanken sich, dass wir das tun und so viel Arbeit reinstecken“, freut sich Lena. „Und es gibt auch viele, die erzählen, dass es ihnen schon geholfen hat, das Geschehene einfach mal aufzuschreiben und jemandem zu erzählen.“ Saskia ergänzt: „Und natürlich ist die Sichtbarmachung für viele ein gutes Gefühl – zu sehen, dass sich Menschen empören oder anderen Leuten damit vielleicht ein bisschen die Augen geöffnet werden.“

Für die Zukunft wünschen sich die zwei Darmstädterinnen einen Wandel in der Gesellschaft: „Es fehlt oft das Bewusstsein, dass nicht nur das Belästigung ist, was rechtlich so definiert ist, sondern dass Belästigung auch schon vorher stattfindet. Es ist vielen leider ganz oft nicht bewusst, was das in der Person anrichten kann“, bekräftigt Saskia. „Häufig höre ich – nicht nur von Männern – als Reaktion auf einige Geschehnisse, dass wir Frauen so etwas doch einfach als Kompliment verstehen oder es ignorieren sollen. Aber die Frau sollte nicht die Aufgabe haben, etwas zu ignorieren!“ Da stimmt Lena zu: „Niemand sollte die Aufgabe haben, etwas zu ignorieren, was ihm zugefügt wird. Sondern derjenige, der etwas zufügt, sollte die Aufgabe haben, das zu unterlassen.“

 

Hilfsangebote und Beratungsstellen

Du bist Opfer sexueller Belästigung? Hilfsangebote und Beratungsstellen sind unter anderem der Weiße Ring e. V., der Frauennotruf Darmstadt, Pro Familia oder die Telefonseelsorge. Auch Wildwasser Darmstadt e. V. ist ein geeigneter Ansprechpartner. In Bars und Clubs setzt sich als Codewort für die Frage nach Hilfe in akuten Fällen immer mehr auch die Frage nach „Luisa“ durch.

Mehr über „Catcalls of Darmstadt“ erfährst Du online unter catcallsofdarmstadt.com