Gestaltung: Rocky Beach Studio
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Der Datterich schlurft auf Darmstadts Straßen umher. Keinen Groschen in der Tasche steuert er auf seine ihm vertrauten Orte des Trinkens, Schwadronierens und Kartenspielens zu. Er wird von der zur Gewissheit gesteigerten Hoffnung getragen, auch heute wieder jemanden zu finden, der ihm dabei behilflich ist, seinen „vasteckte Dorscht“ zu stillen. Er weiß, wie er seine Spießgesellen und auch Fremde dazu beflügelt, ihm die Rechnung im Wirtshaus zu bezahlen: „Jetz noch Ahns! Schmolles! Bleib mei Freind, ich haaß Datterich.“

Dieses Auftreten des Darmstädter Lieblingshelden verdient eine genauere Betrachtung. Machen wir uns zuerst seine Situation klar: Arm, verschuldet und ohne Job lebt der Datterich in den Tag hinein, als gäbe es kein Morgen. Die täglichen Visiten seiner Gläubiger mögen ihm zwar auf den Geist gehen, aber eigentlich nerven ihn weitaus mehr die Sonnenstrahlen, die in seine karge Dachkammer eindringen und den bekennenden Langschläfer aus seinen Träumen reißen. Gekonnt, spielerisch und phantasievoll wiegelt er die Gläubiger ab. Unser Held legt eine Leichtigkeit und Souveränität im Umgang mit der Schuldenlast an den Tag, die ihresgleichen sucht (einmal wird er wohl vom Bengler gehörig verprügelt, aber dieser Gewaltakt des Gehörnten spielt hinter den Kulissen). Stets mit Verve und offensiv betritt er seine selbst geschaffene Bühne. Als Meister im „Networking“ nutzt er öffentliche Räume als Handlungsfläche seines Lebensentwurfes; ganz im Gegensatz zum Zeitgeist, dem biedermeierlichen Rückzug in die „heiligen vier Wände“ bei Familie, Kunst, Literatur und Musik. Und vielleicht auch ganz im Gegenteil zu typischen Verhaltensweisen real existierender Personen, die in prekären Verhältnissen leben und von Schulden bedrückt werden?

Das Dasein unter prekären Bedingungen

Schulden, Gläubiger und der Umgang, das Leben damit, ist eines der zentralen Themen im „Datterich“. Auch wenn sich in der Figur des Protagonisten gewiss Ernst Elias Niebergall, sein literarischer Schöpfer, nicht selbst porträtierte, so gibt es zumindest diese eine Parallele: die Schulden und das Dasein unter prekären Bedingungen. Niebergall, dessen 200. Geburtstag auf den 13. Januar 2015 fällt, stand nicht gerade auf der „Sonnenseite“ des Lebens (frühe Inobhutnahme, Almosen durch den Landesfürsten, verdingt sich als Privatlehrer mit niedrigem Einkommen, womöglich kommen Alkoholismus und eine schwache Gesundheit hinzu). Die Folge: Ein früher Tod, wie am 22. April 1843 im „Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt“ mitgeteilt wurde: „Der Candidat der Theologie, Ernst Elias Niebergall, des verstorbenen Großherzoglichen Kammermusikus Georg Niebergall nachgelassener ehelich lediger Sohn, 28 Jahre, 3 Monate und 6 Tage alt; starb den 19.“ Niebergall wich viel zu früh – wahrscheinlich an einer Lungenentzündung erkrankt – in seiner mit geliehenen Möbeln karg bestückten Mietwohnung, aus dem Leben. Die versteigerten Hinterlassenschaften reichten nicht aus, um die Gläubiger auch nur annähernd auszubezahlen. Arme sterben schlichtweg früher. Niebergalls Meisterwerk, den „Datterich“, hat der Autor nicht mehr auf der Bühne gesehen. Es lebt bis heute.

Wer aber unterstützt die verschuldeten Menschen?

Und auch das Thema Schulden erfreut sich aktuell leider bester Gesundheit: „Schuldenkrise“, „Schuldenberge“, „Schuldenregulierung“, „Schuldenerlass“, „Schuldfrage“, „Schuldbekenntnis“ – kennt man ja alles auch heute nur allzu gut. Nicht nur öffentliche Haushalte und Banken sind von Verschuldung betroffen. Die Zahl verschuldeter Personen und Familien nimmt zu. Es gilt, diese schwierige Problematik verstärkt auch öffentlich anzugehen: „Systemrelevante“ Banken und Großkonzerne werden gerettet, wer aber unterstützt die verschuldeten Menschen? Den Kampf gegen die Schulden aufzunehmen, sich den Schuldnern zu widmen und deren Situation zu verstehen, das haben sich ein Kooperationsprojekt der Stadt Darmstadt und des Darmstädter Freiwilligenzentrums zum Ziel gesetzt. Denn im Gegensatz zum Aktionismus des Datterich mündet die missliche Lage der Betroffenen oft in Resignation, Depression, Scham und Rückzug. Bürger unterstützen hier ehrenamtlich in vielfältiger Weise die hauptamtlichen Schuldnerberater der Stadt bei ihren Bemühungen den Schuldnern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hilfestellung bei Ämtern und Behörden, das Ausfüllen von Anträgen, Telefonate, aber auch einfach nur zuhören – all das umfasst das Engagement der freiwilligen Helfer.

Und weil ja der Datterich, die Darmstädter Gegenwart und die Vergangenheit irgendwie zusammenhängen, wird sich auch im Rahmen des Datterich-Festivals vom 4. bis 14. Juni 2015 auf vielfache Weise der Schulden-Problematik gewidmet. Obendrein werden bei verschiedenen Aktionen ein paar „Kreizer“, „Gulde“ und „Batze“ für das Schuldnerberatungsprojekt abfallen. Wir finden das prima, oder? „Eher wie net“!

www.datterich-festival.de

 

Schulden? Hier gibt es Hilfe zur Selbsthilfe

Stadt Darmstadt: Projekt Ehrenamt in der Schuldnerberatung
Renate Schreckenbach/Sarah Diedrichs
Stadthaus Frankfurter Straße 71, 64293 Darmstadt
(06151) 13 31 43
ehrenamt-schuldnerberatung@gmx.de

Freiwilligenzentrum Darmstadt
Paritätische Projekte gem. GmbH
Tom Schüler
Rheinstraße 67, 64295 Darmstadt
(06151) 85 065 70
info@freiwilligenzentrum-darmstadt.org

 

Gestaltung: Rocky Beach Studio
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