Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Hand auf’s Herz! Hätten Sie beim Anblick des obenstehenden Fotos gedacht, dass der hier Portraitierte die jährliche Laufleistung Ihres PKW toppt? Dass er in diesem Jahr schon eine zweistellige Anzahl an Marathon- und Ultralauf-Wettkämpfen hinter sich hat? Dass er sich zum Ziel gesetzt hat, eines Tages 100 Marathon- und Ultraläufe absolviert zu haben? Nein, oder? Sieht eigentlich wie ein ganz normaler Typ aus, der Jörg Drechsler aus Groß-Umstadt. Ist er auch. Und doch ist er zu Ausdauerleistungen fähig, die sich die meisten von uns nicht einmal vorstellen können. Das P fragte sich: Was treibt einen Menschen an, Forrest Gump Konkurrenz zu machen?

Angefangen hat alles, als Jörg, Vater zweier Töchter und Ex-Zeitsoldat, 2003 mit dem Fußballspielen aufgehört hatte und „die Waage auf einmal eine Zahl anzeigte, die ich nicht leiden konnte“, wie er verrät. Da er als Sportwart im Böllenfalltorstadion Schichtdienst leistet, kam nur eine Sportart infrage, bei der er die Trainingseinheiten selbst planen konnte. Jörgs Wahl fiel auf das Laufen. „Am Anfang habe ich mir fünf bis sechs Kilometer zum Ziel gesetzt und kam nicht mal den kleinen Berg in Groß-Umstadt hoch.“ Dass er sich sehr bald sehr stark steigerte, ist – neben eiserner Trainingsmoral und dem Setzen realistischer, aber stets höherer Ziele – vor allem darauf zurückzuführen, dass er 2004 im Freundeskreis herumerzählte, dass er vorhabe, einen Halbmarathon zu laufen. „Da gab es dann natürlich keine Ausreden mehr. Die Blöße, den nicht zu laufen oder abzubrechen, wollte ich mir nicht geben“, erklärt der gebürtige Frankfurter.

Gesagt, getan – damals noch mit einer herkömmlichen Armbanduhr und in Fußballerklamotten, aber mit der mehr als ordentlichen Zielzeit von 1:44 Stunden. Als er mit dem gleichen Elan im Mai 2005 seinen ersten Marathon anging, gab es jedoch einen Rückschlag: Er war das Rennen zu schnell angegangen und fiel nur noch so ins Ziel, dass die Sanitäter ihn verarzten mussten. Jörg ließ sich davon nicht entmutigen und startete im Herbst 2005 beim Frankfurt-Marathon einen zweiten Anlauf, der wesentlich besser lief. Er erreichte das Ziel in weniger als vier Stunden.

Problemloser Einstieg in die Ultralauf-Szene

Bis hierhin können sicherlich viele laufbegeisterte Leserinnen und Leser folgen. Den Traum, irgendwann einmal einen Marathon durchzustehen, haben viele. Die, die ihn sich erfüllt haben, versuchen vielleicht noch, ihre Zeit zu verbessern. Das war’s dann aber auch. Bei Jörg Drechsler lag der Fall anders: „Ich sah im Internet, dass im Januar 2007 im Rodgau ein 50-Kilometer-Lauf stattfand und dachte mir: Wenn Du 42 Kilometer schaffst, dann schaffst Du auch 50!“ Mit dem problemlos absolvierten Lauf war der Einstieg in die Ultra-Szene gemacht. Da Jörg am nächsten Tag keinen Muskelkater verspürte und nochmal locker zehn Kilometer „auslief“, wurden die Ziele noch einmal höher gesteckt: Es folgten Ultraläufe von bis zu 100 Kilometer, gerne auch, wie beim Rennsteiglauf in Thüringen, mit ordentlich Höhenmetern gewürzt, zudem Etappenläufe wie der Drei-Länder-Trail in Luxemburg, der es auf 187 Kilometer in vier Etappen bringt. Und dazwischen immer wieder Marathonläufe, gerne auch verrückte wie der Eberstädter Knastmarathon oder der Dresdner Parkhaus-Marathon. Dass Jörg dabei das eine oder andere Mal auf dem Siegertreppchen stand, muss ich ihm im Gespräch geradezu aus der Nase ziehen, so irrelevant ist es für ihn: „Mir wäre es lieber, wenn ich Letzter wäre, aber mein persönliches Ziel erreicht habe, als dass ich Dritter werde und es nicht erreiche.“

Das Schneller-Höher-Weiter, das für die meisten von uns wie der absolute Wahnsinn klingt, war für den 41 Jahre alten Groß-Umstädter eine ganz natürliche Entwicklung: „Ich fragte mich, welche Ziele ich mir setzen will: Verbessere ich meine Zeit oder gehe ich in die Natur? Die Wahl fiel mir leicht – in der Natur kriege ich den Kopf frei, jeder Lauf durch den Wald wirkt auf mich wie eine Kur. Deshalb suche ich mir lieber lange, außergewöhnliche Läufe auf verschlungenen Pfaden und mit vielen Höhenmetern raus als die immer gleichen City-Marathon-Veranstaltungen.“

Da bislang die Gesundheit mitspielt und er trotz seiner 50 bis 150 wöchentlichen Trainingskilometer keine Gelenk- oder sonstigen Probleme hat, steht nach bislang 22 Marathon- und 23 Ultraläufen das Ziel im Fokus, einmal 100 dieser Läufe gemeistert zu haben. Wobei die Strecken gerne noch länger werden dürften – für 2014 stehen neben einem 100-Meilen-Lauf auch ein 24-Stunden-Rennen auf dem Programm.

„Drechsler, Du bist unausstehlich! Geh mal wieder laufen!“

Zwar gesteht Eintracht-Fan Jörg angesichts dieser Entfernungen, dass Ausdauersport süchtig machen kann, doch abgesehen davon sieht er sich als ganz normalen Typen. Er habe eine Schwäche für Wodka-Red-Bull und wisse auch, wie ein Burger King von innen aussieht. Das sei auch nichts Ungewöhnliches in der Ultra-Läufer-Szene: „Da gibt es schon den einen oder anderen mit zehn Kilo Übergewicht oder diejenigen, die sich direkt nach dem Zieleinlauf ‘ne Kippe anstecken“, weiß er zu berichten.

Nur darf es nicht so häufig passieren, dass er mal vier Tage nicht für ein bis drei Stunden zum Laufen in den Wald kommt. Denn dann werde er unausgeglichen und hibbelig. So hibbelig, dass sein Umfeld auch schon einmal mit einem genervten Ausspruch reagiere: „Hey Drechsler, Du bist unausstehlich – geh mal wieder laufen!“