„What is the most German thing about you?“, fragt mich jemand diesen Sommer in Schweden. Ich schweige – was an mir ist überhaupt deutsch? Was überhaupt ist deutsch? Ich bin nie wirklich pünktlich, mag es nicht, abends kalte Brote zu essen und habe so meine Schwierigkeiten mit Direktheit. Schwierigkeiten hab ich auch damit, mich selbst in eine Schublade zu stecken, deswegen wechsle ich das Thema. Aber der Diskurs darüber, dass es Schubladen und Stereotype gibt und wie wir damit umgehen können, ist wichtig. Vielleicht ist es ja typisch deutsch oder zumindest darmstädtisch, dass sich Kunst öffentlich mit solchen Themen auseinandersetzt. Konkret: vom 17. bis 22. September auf dem Friedensplatz (und an weiteren Kulturorten). Hier liefert die Ausstellung „Grenzen los!“ mit Werken von sechs Darmstädter Künstler:innen bildhafte Denkanstöße zum Thema Vielfalt und Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft.
Wie es ist, nicht reinzupassen, merke ich nur, wenn ich Deutschland temporär verlasse. Andere sind zwar in Deutschland geboren und zu Hause, werden dennoch immer wieder gefragt, woher sie kommen und was sie hier tun. Wie unangenehm es ist, aufgrund der Hautfarbe direkt als Fremde eingeordnet zu werden, konnte ich beim Reisen außerhalb Europas erleben. Wie unangenehm es sein muss, als Fremde:r im eigenen Land angesehen zu werden, kann ich mir nur vorstellen.
Haut und Nähe
Egal wie viele Gemeinsamkeiten da sind, unsere Haut und ihre Farbe scheinen zu verraten, wie zugehörig man ist. Die Möglichkeit, sich aufgrund der Hautfarbe ein Bild von einer Person zu machen, möchte Künstler und Fotograf Nouki uns in seinem Werk nehmen. Seine MRT-Portraits zeigen, wie wir unter der Haut aussehen: alle gleich. Erst wer den QR-Code neben den Portraits scannt, erfährt mehr über die Portraitierten, wie sie aussehen und was sie ausmacht – in Form eines Analogportraits und eines kurzen Interviews. Fotografieren bedeutet für Nouki sichtbar machen, in diesem Fall: dass wir unter der Haut – under the skin, sous la peau – alle gleich sind.
Guckt man noch tiefer unter die Haut, wird deutlich: Die Gleichheit geht sogar so weit, dass wir ganze 99,9 Prozent unseres Erbguts gemeinsam haben. In der Wilhelminenstraße 25 zu sehen ist die Wandinstallation „_all human | we are connected by the same DNA“ von Ulrike Rothamel – eine DNA-Doppelhelix aus 30 Händen, die unsere Aufmerksamkeit weglenkt von allem, was uns unterschiedet, hin zum Kern, der uns alle gleichmacht.
Grenzen und Abgrenzung
Wenn wir – unter der Haut – alle gleich sind, erscheinen Grenzen, Ausgrenzungen und Abgrenzungen sinnlos. „Grenzen los!“ ist nicht nur Name und Thema der Ausstellung, sondern auch ihre Form. Die Werke werden (teilweise schon ab Ende August) im öffentlichen Raum gezeigt, es muss keine räumliche Grenze überschritten werden, um der Kunst zu begegnen. „Denn es bringt wenig, wenn der Diskurs über Integration und Ausgrenzung in einem eingegrenzten kleinen Kreis geführt wird“, meint auch Künstler Nouki. Wenn nur eine einzige Person, die durch die Stadt spazierend zufällig an seinen Werken vorbeikommt, ihre Vorurteile überdenkt, habe seine Kunst ihr Ziel erreicht.
Mauern und Fremde
23. Juli 1330. Wilhelm I. von Katzenelnbogen erwirbt mit den Stadtrechten das Recht, eine Mauer mit Graben um Darmstadt zu bauen. Die Stadtmauer bietet Schutz; Fremde oder Feinde werden von Weitem über die Türme gesichtet. Schon in der Steinzeit wurden um Siedlungen Zäune gebaut, noch heute sind unsere Häuser durch Vorgärten und Zäune von der Straße abgegrenzt. Von der Darmstädter Stadtmauer sind heute nur noch Reste übrig – aber davon, dass Mauern und Grenzen der Vergangenheit angehören, kann keine Rede sein. Staatsgrenzen, moralische Grenzen, sprachliche Grenzen … Grenzen gibt es vieler Art. „Die größte Grenzüberschreiterin ist seit jeher die Kunst. Sie hat die Fähigkeit, uns zum Nachdenken zu bringen, andere Blickwinkel auf die Dinge zu gewinnen, die Welt zu hinterfragen“, so Karin Wolff, Geschäftsführerin von „Grenzen los!“-Sponsor Kulturfonds Frankfurt Rhein Main.
Am Marion-Gräfin-Dönhoff-Platz gehen Reste der Stadtmauer ins Darmstadtium über, das als Wissenschafts- und Kongresszentrum Fremde geradezu einlädt, nach Darmstadt zu kommen. Am anderen Ende des futuristischen Gebäudes, auf dem Hiroshima-Nagasaki-Platz, visualisiert Petra Abroso auf vier großen Bannern der Bildreihe „Out of border“ die Absurdität von Grenzen. Für sie ist der Platz ein Ort der Begegnung. Die Begegnung mit ihren Bildern zeigt hier: Mauern können verfallen, ihre Funktion verlieren und nach unseren Wünschen umgewidmet werden.
Begegnung und Partizipation
Wenn ich 700 Jahre nach Wilhelm I. an das Wort Stadtrecht denke, bedeutet es für mich, die Stadt, in der ich lebe, mitzugestalten. Mitgestaltet werden kann am Friedensplatz das Exponat von Julian „Deafman“ Block. Auf ein Gerüst mit Bannern sprayt Julian die Silhouette eines Elefanten. Vor und während der Ausstellung kann jede:r helfen, den Elefanten mehrfarbig mit Leben zu füllen. Was daraus wird, ist unbekannt – wenn wir uns diesem Gedanken öffnen, entsteht Raum für Begegnung und Verbindung: „Wir können uns dadurch näherkommen, gemeinsam Neues zu schaffen“, erklärt Julian. Warum der Elefant? Weil dieser in vielen Kulturen ein geschätztes Symbol für Weisheit und Frieden ist, und somit am Friedensplatz wohl an der richtigen Adresse. Begleitet wird die Ausstellung von einem kunstpädagogischen Programm. Was genau angeboten wird, lässt sich auf darmstadt-grenzenlos.de nachlesen.
Eure Partizipation braucht auch die interaktive Installation „Menschenbilder“ vom „studio cg“ des Darmstädter Illustrators Christoph Grundmann. Sie basiert auf dem gleichnamigen Klappbuch, in dem man sich durch Nationalitäten und nicht ganz vorurteilsfreie Herkunftszuschreibungen blättern kann. Die Installation, an der statt geklappt an einer Säule gedreht wird, soll zeigen, wie austauschbar Vorurteile und Menschenbilder sind.
Auch Petra Blank zeigt einen spielerischen Ansatz für den Umgang mit Vorurteilen. In ihrer Plakat-Aktion „Schubladen aufräumen“ wirft sie collagenartig einen kritischen Blick auf unser Schubladendenken, durch das wir innerhalb kürzester Zeit aufgrund von Herkunft, Beruf oder Äußerlichkeiten versuchen, uns ein Bild von jemandem zu machen. Anstatt zu bestreiten, dass es dieses Denken gibt, schaut Petra Blank in die Schubladen hinein und sortiert diese neu.
Meine Schublade
Ich denke zurück an den What’s-German-about-you-Menschen in Schweden und darüber, wie meine Schublade aussehen könnte. Erst einmal bin ich Mensch, mit der zu 99,9 Prozent identischen DNA wie alle anderen; war zwar noch nie in einem MRT, würde dort aber wahrscheinlich auch so aussehen wie alle anderen. Weiterhin bin ich in Deutschland geboren und aufgewachsen, mittelständisch und vorstädtisch – ab in die Schublade damit, neben die Bezeichnungen Studentin, Redakteurin, Freundin, Mitbewohnerin. So viel Platz ist in so einer Schublade gar nicht, aber vielleicht läge darin noch ein Gedicht über Fernweh, eine Kamera, eine Mini-Ausgabe von „Der Kleine Prinz“ oder ein Zimtbrötchen? Ob meine Deutschheit an mir so wichtig ist, dass sie Platz in dieser Schublade findet, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht ist da ein kleiner Zettel, auf dem steht, dass ich das sonntägliche Brötchen-vom-Bäcker-Frühstück liebe und Spätis vermisse, wenn ich im Ausland bin. Kleinigkeiten machen meine Schublade einzigartig, wobei diese zum größten Teil vielleicht aussieht wie die von anderen deutschen Studierenden. Um es mit den Worten von Darmstadts Oberbürgermeister Hanno Benz zu sagen: „Letztendlich sind wir alle gleich und gleichzeitig individuell.“
Öffentliche Kunstaustellung „Grenzen los!“: Eröffnung mit „Darmstadt_Speakers“
Initiatoren: Wissenschaftsstadt Darmstadt (unter Federführung des Amts für Vielfalt und Internationale Beziehungen und der AG Weltoffenes Darmstadt), Darmstadt Marketing GmbH und Kulturfreunde Centralstation e. V.
Friedensplatz Darmstadt + Wilhelminenstraße 25 + Hiroshima-Nagasaki-Platz
Vernissage wird am Sonntag, 17. September, um 17 Uhr auf dem Friedensplatz mit Performances von „Darmstadt_Speakers“ gefeiert. Diesmal bei der – ebenfalls von „Grenzen los!“ geförderten –, kunterbunten Pop-up-Kulturintervention dabei sind: das Indie-Pop-Duo Used, die Paartanz-Performance „Fluid Love“ von Pia und Kay sowie der Darmstädter Multiinstrumentalist, Singer/Songwriter und Produzent Felix Krell. Außerdem werden alle „Grenzen los!“-Künstler:innen auf der Bühne vorgestellt.
Zum Abschluss am Freitag, 22. September, um 17 Uhr (ebenfalls auf dem Friedensplatz) singt und moderiert Aurora DeMeehl – überzeugt davon, dass Gesang und gemeinsames Lachen universelle Sprachen sind, die Menschen verbinden.
Der Eintritt ist frei.