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Foto: TU Darmstadt, Universitätsarchiv

„Der Laie wird fragen: Warum wird das erst jetzt aufgearbeitet?“, nimmt Geschichts-Professor Christof Dipper die nahe liegende Frage vorweg. Knapp 65 Jahre nach Kriegsende lässt die TU Darmstadt untersuchen, wie sie und ihre Wissenschaftler sich am NS-Staat beteiligt haben. Im Mittelpunkt des Projekts stehen  die Dissertationen zweier junger Wissenschaftlerinnen, Melanie Horn und Isabel Schmidt. Detailliert sollen sie die Zeit zwischen 1930 und 1960 analysieren und bewerten.

Klar ist schon jetzt: Die damalige Technische Hochschule (TH) war alles andere als ein Unschuldsengel. So haben etwa an der Langstreckenrakete V2 knapp hundert Mitarbeiter der TH mitgearbeitet. Und deshalb muss man fragen: Warum stellt sich die TU erst jetzt ihrer Geschichte? In der Nachkriegszeit war eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit im Alltag oft blockiert worden. In der Gesellschaftsforschung wird diese Zeit als eine Epoche des „Lebens mit den Tätern“ bezeichnet. Damit Organisationen wie Unternehmen oder Hochschulen sich bereitwillig mit der Thematik aus einandersetzen konnten, benötigte es einen Generationenwechsel in ihren Entscheidungs ebenen. Die Wissenschaft war im Dritten Reich eng mit der Politik verbunden. Und so brachte erst in den 1990er Jahren die zeitliche Distanz zum Nationalsozialismus in Deutschland die ersten selbstkritischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte durch verschiedene wissenschaftliche Institute und Institutionen.

Auch wenn man nun in Darmstadt spät dran ist, so ist das Projekt der TU doch besonders: „Zum einen ist der untersuchte Zeitraum – die Jahre 1930 bis 1960 mit Ausblick in die heutige Zeit – bisher so weit noch nicht gefasst geworden“, sagt Projektleiter Dipper, „zum anderen ist die Verbindung der Fragestellungen einmalig.“

Zunächst soll unter die Lupe genommen werden, wie Studenten und Dozenten politisiert wurden. Dazu gehörte eine ideologisch manipulierte Personalpolitik, nach der „rassisch“ oder politisch unerwünschte Professoren entlassen wurden, und in der das Führerprinzip galt, nach dem sich die gesamte Gesellschaft ohne Einschränkungen Adolf Hitler unterzuordnen hatte. Eine weitere Frage ist, welche Änderungen die TU nach dem Ende des Dritten Reichs in Instituten, Personal und Fachwissenschaften vollzog. Dazu gehören die Entnazifizierung, die Wiedergutmachung und die allgemeine Hochschul- und Personalpolitik.

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Foto: TU Darmstadt, Universitätsarchiv

Insgesamt soll das Projekt beleuchten, wie sich einzelne Disziplinen am System des Nationalsozialismus beteiligt haben. Schwierig zu klären ist dabei, inwieweit Wissenschaftler politisch motiviert handelten. In ihrer Selbstwahrnehmung stellen sich viele Disziplinen als „nicht politisch agierend“ dar.

Doch der Anteil der TH am militärisch-industriellwissenschaftlichen Komplex des NS-Staates ist nicht zu unterschätzen. Viele Darmstädter Institute betrieben „kriegsnahe“ Forschung wie die Materialforschung, technische Physik, Chemie und die praktische Mathematik. Zudem bedeutete die Anerkennung eines Fachbereiches als „kriegswichtig“ eine beachtliche materielle und personelle Unterstützung durch den NS-Staat. Hier wirkte bei manchem Institutsleiter über den Selbsterhaltungstrieb hinaus wohl ein gewissenloser Opportunismus, sich dem System anzudienen.

So ambivalent und vielschichtig die Beteiligung von Wissenschaften im Nationalsozialismus war, so schwierig gestaltet sich heute auch der Nachweis und die Bewertung der Verantwortung und der politischen Überzeugung Einzelner. Dies ist nicht zuletzt auch der schwierigen Quellenlage geschuldet: Ein Großteil der Akten vor 1945 ist in der Brandnacht am 11. September 1944 verbrannt. Die Suche nach Zeitzeugen steht daher unter hoher Dringlichkeit.

Weitere Infos:
www.tu-darmstadt.de/universitaet/praesidium/th_nszeit