Illustration: Martina Hillemann

Wenn man es mit 18 Jahren verpasst hat, seinen Führerschein zu machen, und dies nie nachholte, sieht man den Verkehr auf Deutschlands Straßen anders. Noch dazu, wenn man wie ich eine Leidenschaft fürs Rennradfahren entwickelt hat.

Der motorisierte Individualverkehr hat in den letzten Jahren zugenommen. Es ist enger geworden auf den Straßen, egal ob in den Städten oder auf dem Land. Obwohl wir im Land der Klimaschützer leben, sind auch hier die Karossen breiter, länger, höher geworden, mithin die Motorleistung. Beim Schadstoffausstoß wurde etwas nachgeholfen. Um die Leistung des tonnenschweren Transportmittels für Brötchen oder Kleinkinder nicht zu beeinträchtigen. „Das will der Kunde“, heißt es.

Frische Luft dank Corona

Und nun, in Zeiten von Corona? Der Verkehr in den Städten hat stark abgenommen. Die Straßen sind ziemlich leer. Und viele erkennen, wie viel Platz da ist. Wie anders die Luft ist. Wie leise es in den Ballungszentren ist. Kann das nur am Autoverkehr liegen? Man sieht Eltern mit ihren Kindern die Strecken zwischen zwei Orten mit dem Rad auf der Landstraße (ohne Radweg!) zurücklegen. Vor ein paar Monaten wären diese von hupenden Autofahrer*innen noch dem Jugendamt gemeldet worden, wegen Kindeswohlgefährdung. Auch in Darmstadt tut sich was. Zwischen den ganzen Jogger*innen und Spaziergänger*innen sind immer mehr Räder unterwegs. Das merken die Radeinzelhändler*innen. Die Umsatzverluste durch den Lockdown sind bei manchen Händler*innen fast wieder aufgeholt. „Das ist das Verkehrsmittel der Stunde,“ so David Eisenberg vom Zweirad-Industrie-Verband. Da werden keine Staatshilfen gefordert – anders als beim Wirtschaftsmotor Nummer 1 in Deutschland: der KFZ-Branche. Seltsam.

Darmstädter Trippelschritte

Nun könnte man meinen, das gäbe einen Schub im grün regierten Darmstadt. Mit einem OB, der beherzt durch die Straßen seiner Stadt pedaliert. Stattdessen reibt man sich die Augen, ob der Aussagen der letzten Wochen. Eine temporäre Nutzung von Fahrstreifen der Autos wird mal als „charmant“ oder „sympathisch“ bezeichnet. Doch folgt prompt eine Absage. Klar. Nur nichts wagen. Was soll nur passieren, wenn nach dem zu erwartenden Aufschrei der üblichen Verdächtigen ein Großteil der Heiner Zustimmung signalisiert? Lieber weiter in kleinsten Trippelschritten. Niemanden erschrecken mit zu großen Einschnitten in die persönliche Mobilität. Aber wäre das so? Kann es nicht auch sein, dass die Menschen sich anpassen? Oder es gar genießen? Woher kommt nur diese Angst? Dieses Festhalten an alten Gewohnheiten? Als noch Urlauber*innen aus anderen europäischen Städten zurückkehrten, haben viele geschwärmt von den Zuständen in Amsterdam, Kopenhagen oder Oslo. Warum soll das nicht auch bei uns funktionieren? Kopenhagen zum Beispiel hat mit einer konsequenten Umgestaltung hin zum Rad- und Fußgängerverkehr 2006 begonnen. Darmstadt begann im selben Jahr die Planung für eine Rad- und Fußgängerbrücke über die Rheinstraße, dessen Baubeginn jüngst wieder verschoben wurde.

Zeit für Experimente

Genau jetzt wäre die Zeit für Experimente. Idealerweise solche, die einfach umgesetzt werden können und bestenfalls den Stadtsäckel nicht zu sehr belasten. In der Hindenburgstraße könnten auf beiden Seiten die nur für parkende Autos vorgehaltenen Streifen für Radler*innen freigemacht werden. In den Fahrradstraßen Pankratius- und (obere) Wilhelminenstraße wird nur auf einer Seite das Parken erlaubt. Auf allen Wegen, die breit genug sind, dass sie von Fußgänger*innen und Radler*innen genutzt werden können, wird eine Seite mit Farbe klar gekennzeichnet. Die untere Wolfskehlstraße wird für den Autoverkehr gesperrt. Alle hätten mehr Platz zum Flanieren und Radeln auf dem Weg zum Ostbahnhof oder der Rosenhöhe. Nebenbei wird dadurch der illegale Umgehungsverkehr des Rhönrings stadtauswärts verhindert.

Begrünte Fahrradparkhäuser mit Gastronomie

Das sind nur ein paar spontane Vorschläge, die bestimmt in dieser oder anderer Form schon angedacht wurden. Wann wird in Darmstadt begonnen, den Verkehr konsequent zu verändern? Am besten übrigens in Zusammenarbeit mit den Landkreisen. Nicht zu viele Gedanken über teure Gleisverlegungen machen, sondern die Asphaltmaschinen anwerfen und bestehende Radwege ausbauen, verbessern und sternförmig aus allen Himmelsrichtungen in das Stadtzentrum führen. Parkhäuser abreißen und luftige Fahrradparkhäuser mit begrünten Dächern inklusive Gastronomie entwerfen. Auf dem Rad stärkt der Mensch seine Abwehrkräfte und kräftigt die Lungen. In heutigen Zeiten wichtiger denn je.