Im Januar 2017 verstarb die Bildhauerin Sigrid Siegele. Sie ließ ein Atelier in der Nähe der Rosenhöhe zurück. Dazu unzählige Arbeiten aus gebranntem Ziegel. Ihr Markenzeichen. Sie füllen die Regale, die im Garten des Ateliers unter Blechdächern stehen. Sie zieren die Arbeitsterrasse, den Rasen unterm Nussbaum, die Fensterbänke drinnen. Vor ihrem Tod hat die Bildhauerin geregelt, was ihr wichtig war: Wer vervollständigt das Werksverzeichnis? Wohin mit den Plastiken? Und was geschieht mit dem Atelier?
Auf dem Sterbebett im Hospiz äußerte sie einen Wunsch: Dass das Atelier künftig ein Raum der Begegnung würde – Raum für Ausstellungen, Konzerte, Stipendiaten, für Künstler also, die temporär die Arbeitsräume nutzen, dort leben, wie sie selbst dort gelebt und gearbeitet hat.
Seit 1992 hat sie in der Wolfskehlstraße 110a gearbeitet, über weite Strecken auch gewohnt, vor allem in den Jahren bis zu ihrem frühen Tod. Hat das heruntergewohnte und schwer beheizbare Backsteinskelett zusammen mit ihrem Lebensgefährten gegen Kälte gedämmt, mit Arbeitsterrasse und Galeriebereich wohnlich gemacht. Es ist eines der städtisch subventionierten Ateliers, mit denen die Stadtbauväter nach dem Krieg, 1949, Künstler aus anderen Regionen anwarben. Neben Wohnraum und Arbeit sollte auch die Kultur bei der Wiederbelebung Darmstadts helfen. Peter Steinforth war der erste, der 1950 einzog. Im Atelier nebenan ließ sich fast zeitgleich das Ehepaar Nass von Blumenthal aus Mainz nieder. Mitte der 60er Jahre übergab Steinforth das Arbeitsareal an Dolf Hoppe. Jedoch erst durch Sigrid Siegeles beharrliche Umtriebigkeit gelangte der nackte Bau zu dem Charme, den er heute hat.
Backsteinbau mit Charme
Er ist ein Geheimtipp, nur wenigen in Darmstadt bekannt. Eingeklemmt zwischen der Villa des Roten Kreuzes und einem Wohnblock schlängelt sich ein Schotterweg zu den Ateliers, die sich unter altem Baumbestand in eine Grün-Nische ducken. Überall steht Kunst: Ziegel-Plastiken in Form von Stelen, Barken, Flügeln. Noch vor wenigen Jahren klatschte die Bildhauerin auf der Terrasse ihre rohen Ziegel auf die Arbeitsplatte, brachte sie in die gewünschte Form, baute die Steine zu mannshohen Toren auf. Vor Wetter schützten Dach und Wände, eine Fensteraussparung ließ den Garten herein. Heute dient der Vorbau als Ausstellungsfläche.
Es ist wahr geworden, was sich Sigrid Siegele in den letzten Tagen ihres Lebens wünschte. Denn Mitte März wurde die erste Ausstellung in ihren Atelierräumen eröffnet: „Von der Erde genommen …“ ist der Titel – in Gedenken an die Künstlerin, deren Handwerk sich um verformbare Erdklumpen drehte. Neben eigenen Werken sind Arbeiten von sechs Kollegen zu sehen: Bildhauerei, auch Videokunst und Fotografie. Sogar ihr zweiter Wunsch erfüllt sich: Die Darmstädter Sezession, der Sigrid Siegele seit ihrem Preisgewinn 1988 angehörte und die sie viele Jahre tatkräftig im Vorstand unterstützte, wird fortan jährliche Stipendien für junge Künstler ausschreiben. Drei Monate Kost und Logis im Atelier frei, dazu 800 Euro zur Verfügung. Gestiftet von Siegeles Nachlass und Sezessions-Förderern.
Ein Ort, um sich neu zu erfinden
Möglich wurde das durch die Großzügigkeit seitens der Stadt. Die Sezession verhandelte mit dem Kulturamt, trug Siegeles Wunsch vor. Zusammen spann man Ideen. „Wir waren bisher heimatlos“, sagt Inez Gengelbach, Geschäftsführerin der 100 Jahre alten Künstlervereinigung. Jetzt hat die Sezession endlich einen Ort – zum Treffen der Mitglieder, für Ausstellungen, für Stipendiaten. Einen Ort, um sich neu zu erfinden.