Das Goebel-Gelände am Hauptbahnhof ist eine versteckte Keimzelle für Musik, Theater, Kunst und Handwerk – Beginnt hier bald das Kreativ- und Kulturquartier Pallaswiesenviertel? | Fotos: Jan Ehlers, nouki.co

 

In jeder größeren Stadt gibt es Hotspots, an denen sich auf begrenztem Raum vielseitiges kulturelles Leben bündelt. In Darmstadt sind das zum Beispiel die Oetinger Villa und Bessunger Knabenschule, wo sich verschiedene Gruppen und Initiativen Aufenthaltsräume, Proberäume und Live-Bühnen teilen. Weniger bekannt: Ein weiterer kreativer Hotspot befindet sich auf dem ehemaligen Gelände der Firma Goebel. Dort, ostseitig des Hauptbahnhofs gelegen, haben sich seit 2003 diverse Tonstudios, Musiker, Bands, Theaterprojekte, Kulturarbeiter, Handwerker und ein national bekannter Bildhauer ein Domizil geschaffen.

Einst – seit 1851 – fabrizierte die renommierte Maschinenbaufirma Goebel auf 19.500 Quadratmetern Druck-, Rollenschneid- und Wickelmaschinen für den Weltmarkt. Nach einer Insolvenz vor 20 Jahren und letztlich neuen Firmeneigentümern aus Italien und der Schweiz wurden weite Bereiche des Unternehmens geschrumpft oder ausgelagert. Ein Großteil des Geländes und der Gebäude stand damals erst einmal leer. Das gesamte ehemalige Firmenareal (zwischen Im Niederfeld, Morneweg-, Goebel- und Bismarckstraße) kaufte damals der 2015 verstorbene Darmstädter Diplomingenieur Heinrich Fritsch. Um den Leerstand zumindest teilweise zu beseitigen, bot er einige Gebäudeteile kleinen Firmen, Handwerkern und vor allem Kulturschaffenden zur Nutzung an, was angesichts des Mangels an Räumlichkeiten in Darmstadt ein Glücksfall war.

Der professionelle Bassist Wolfgang Ritter, einst Mitglied bei den Bands Tobsucht und Paddy Goes To Holyhead, war im Jahr 2003 einer der Ersten, der sich dort mit seinem kleinen Tonstudio einmietete. „Ich bekam es durch Zufall mit, dass sich dort was ergab. Der alte Fritsch führte mich dann auf dem gesamten Gelände rum und zeigte mir alles. Der war sehr begeistert von der Idee, auf dem Gelände ganz viel Kultur anzusiedeln“, erinnert sich Ritter. Schnell verbreitete sich die Kunde in der Musikerszene und Ende 2003 zogen mit Gyso Hilger, Lolo Blümler und Mark Rückert drei weitere Tonstudiobetreiber auf das Areal.

„Mark und ich betrieben damals ein Tonstudio im ,Loft‘ in der Liebigstraße, Lolo im Nachbarraum ebenso“, erzählt Hilger. Man wollte sich vergrößern, tat sich daher zusammen und baute in einem der frühen Goebel-Bürogebäude eine Etagenseite mit vier Räumen zu einem Studiokomplex um, den jeder für sich nutzen konnte. So befinden sich mit Hilgers „Nektarium“, Blümlers „IronBar“ und Rückerts „Lofthaus“ drei der bekanntesten Darmstädter Tonstudios in einem Komplex. Dort nahmen Dutzende lokale, nationale und sogar internationale Künstler und Bands ihre Alben auf. Exemplarisch seien genannt: Okta Logue, Manges, Ska Trek, Bushfire, Woog Riots, Wright, Re:Jazz, Fnessnej, Rooki und Gwen Dolyn. Auch Darmstadts Techno-Legende Jörn Elling Wuttke sitzt hier häufig am Mischpult, außerdem Lars Schwarz, der schon mit Künstlern wie Gentleman und H-Blockxx arbeitete.

Über beachtliche 680 Quadratmeter erstreckt sich der Komplex der Tag & Nacht Studios, seit 2011 aufgebaut und betrieben von einem Kollektiv, das aus den Bands Wortblind und The Sound Section hervorging. Neben Produktions- und Proberäumen für Bands wie The Barbers, Electric Horseman, Immergrün und Tobi Vorwerk befinden sich hier mittlerweile auch die Studios der erfolgreichen Medienproduktionsfirma Tag & Nacht Media, die schon für ZDF, Lufthansa und Sony arbeitete. Und wenn nicht gerade Corona wütet, veranstalten die Jungs auf den Freiflächen vor ihren Studios alljährlich noch das feine „Tag & Nacht Sommerfest“-Open-Air.

 

2012 zog ein weiteres Tonstudio auf das Areal. Lukas Lehmann und Philipp Rittmannsperger hatten genug vom Heimstudio in der eigenen Wohnung und gründeten daher gemeinsam ihr Lui Hill Studio. Auf mittlerweile erweiterten knapp 80 Quadratmetern spielten Künstler und Bands wie Mädness, Triorität, Ainie und die eigenen Projekte Jay Woser und Lui Hill ihre Platten ein. Lehmann erzählt: „Gerd Knebel vom Komikerduo Badesalz produzierte hier zusammen mit Mädness das Albumprojekt ,Dirty Dabbes‘. Und weil es ihm so gut gefiel, nahm er hier zusammen mit Henni Nachtsheim kurz danach auch das neue Album von Badesalz auf. Das war ein Highlight für uns.“

Neben Tonstudios befinden sich auch Proberäume von namhaften Bands auf dem Gelände: Ease Up Ltd., The Satelliters, New York Wannabes, Ska Trek, Deniz Alataş, Durden und viele andere spielen sich hier warm für ihre teils internationalen Auftritte. Auch einige Musiklehrer nutzen diese Räume beruflich.

Genauso erwähnenswert: die Theaterszene auf dem Gelände. Die beiden Darmstädter Kindertheater-Institutionen Die Stromer und Lakritz haben hier ihre Büros und Proberäume. Und das sehr umtriebige Theaterlabor Inc. breitet sich auf einer ganzen Kelleretage mit ihren Requisiten, Kleidern, Masken und Aufbauten aus. In den Räumlichkeiten wurden auch Teile der berühmt-berüchtigten „Mad Jochen“-Filme vom leider viel zu früh verstorbenen Axel Röthemeyer (siehe Seite 30) aufgenommen. Alle drei Theaterprojekte sind laut Björn Lehn (Lakritz) trotz Corona aktiv, beide Kindertheater auch pandemiekonform buchbar.

Nicht minder wichtig für den Bereich Kultur: Veranstaltungstechniker, Bühnen- und Messebauer haben hier ebenso ihren Firmensitz. Johannes Herkels, mit seiner Firma „Atelier XTRAKT“ seit 2004 auf dem Goebel-Gelände, erzählt: „Wir bieten kreative Raumlösungen für Messen, Events sowie Kongresse an und bauen individuelle Designobjekte. Dafür brauchen wir ein großes Lager und Versuchsflächen, was wir hier mit 900 Quadratmetern optimal vorfanden.“ Hinzu kommen einige kleine Firmen wie drei Schreinereien und der Hausmeisterservice von Wilhelm „Willi“ Metz, der guten Seele des Areals. Wenn irgendwo etwas kaputt ist, kann er meist schnell mit Ersatz aus seinem großen Lager aushelfen.

 

Und dann ist da noch der national bekannte Bildhauer Detlef Kraft mit seinem Atelier. Von ihm stammen unter anderem die Skulpturen „Die Unbesiegbaren“ auf dem Oberfeld und „Little Walter“ auf dem Bessunger Jagdhof vor dem Jazzinstitut. Kraft war einer der ersten Künstler, der auf dem weiten Gelände einen Platz zum kreativen Arbeiten fand. In seinem großen, aber unbeheizten Atelier („Im Sommer ist es schlimmer“) arbeitet er gerade an einer überlebensgroßen Gipsfigur von Chuck Berry samt Gitarre in eindrucksvoller Rockpose. „Solche Arbeiten dauern immer lange. An Chuck arbeite ich schon mehrere Jahre“, sagt Kraft. Er sei froh, hier einen hoffentlich dauerhaften Ort gefunden zu haben, um an seiner Kunstform zu arbeiten, die viel Zeit in Anspruch nehme.

Seit Kurzem gibt es ein paar Fragezeichen, die alle Mieter auf dem Areal beschäftigen. Zum Ende des vergangenen Jahres wurde auch der letzte verbliebene Produktionszweig der Firma Goebel Schneid- und Wickelsysteme GmbH geschlossen, wie unsere Kollegen vom Darmstädter Echo am 28. Dezember 2020 berichteten. Nur ein Ingenieurbüro des Unternehmens soll verbleiben. Nun fragen sich alle: Gibt es dadurch bedingt Pläne für die neuen leer stehenden Flächen? Oder eventuell für das gesamte Areal? Hätte das irgendwelche Folgen für die vorhandenen Mieter?

Der Stadt ist die Bedeutung der Kulturschaffenden auf dem Gelände jedenfalls bekannt. Oberbürgermeister und Kulturdezernent Jochen Partsch schreibt auf P-Anfrage: „Es hat sich dort vor Ort über Jahre hinweg eine gewachsene, lebendige Kulturszene etabliert, die mit ihren Ateliers, Proberäumen und Büros im besten Einvernehmen miteinander einen wichtigen Beitrag zum Kulturleben unserer Stadt leistet, auch wenn dies für die Öffentlichkeit weitgehend hinter den Kulissen abläuft.“ Partsch erklärt weiter, die Künstler*innen auf dem Goebel-Gelände spielten mit Blick auf das sich entwickelnde Kultur- und Kreativquartier Pallaswiesenviertel sicherlich eine Rolle, sie bilden „gewissermaßen einen Brückenkopf zwischen der Innen- und Weststadt, weshalb dort ein Verbleib der entsprechenden kulturellen Infrastruktur natürlich wünschenswert“ sei.

Das klingt doch erst mal sehr erfreulich. Vielleicht siedelt sich auf dem Goebel-Gelände schon bald noch mehr Kultur an? Freiraum wäre derzeit ja vorhanden.