Illustration: André Liegl

Liebe Leser, liebe Darmstädter,

wir sind alle gelegentlich mit der unnützen Zeitverschwendung geplagt, unsere Körper in einen Supermarkt zu manövrieren und dem Konsum zu frönen, weil Magen und Kühlschrank nicht auf ewig paradiesisch gefüllt sein können, wir also notgedrungen Lebenserhaltungsmaßnahmen einleiten müssen. Ich zögere den Gang zum Supermarkt zumeist so lange wie möglich hinaus, weil mich nicht nur die Produktauswahl selbst, sondern auch das Suchen nach den Waren der Wahl über die Maße stresst.

Die Devise des RRR (rein – raussuchen – raus) wird zumeist aber von diversen Störfaktoren quälend in die Länge gezogen, weil der Pfandautomat defekt oder von Menschen besetzt ist, die scheinbar seit Jahren PET-Flaschen in ihren Kellern sammeln und ausgerechnet an meinem „Okay, heute gehe ich einkaufen“-Tag ihre 40.000 Plastikflaschen langsam in das Gerät verschwinden lassen müssen. Nicht ohne sich, wie selbstverständlich, von jeder einzelnen Flasche mit einer eigens für sie erdachten Zeremonie zu verabschieden. Oder die Körbe zum Verstauen der Waren sind in den heiligen Supermarkt-Hallen verschwunden; das Regalsystem ist von dem neuen, übermotivierten Filialleiter neu erdacht worden und Kunden stehen dekorativ in den Gängen herum und probieren Einkaufswagenblockaden für den nächsten G-20-Gipfel aus.

An der Kasse wird die neue Auszubildende eingearbeitet, die stets die Zahlenkombination für Brötchen und Bio-Paprika durcheinanderbringt, wohl aber kein Storno durchführen kann und darf. Ist man nach den Strapazen und einigen Piep, Piep, Pieps der Kasse endlich zum eigentlichen Bezahlvorgang vorgedrungen, kommen die Fragen, die man schon innerlich beantwortet, bevor sie überhaupt gestellt wurden: bar oder mit Karte? Möchten Sie Geld abheben? Sammeln Sie Treuepunkte? Haben Sie eine Payback- Karte? Solch kleine Racheakte des Universums halt.

Wie das im Leben aber so ist, ist nicht alles nur und ausschließlich Qual. Gelegentlich mischen sich kleine Glücksgefühle unter. Zum Beispiel, wenn das Mädchen mit den schiefen Zöpfen, das im Einkaufswagen sitzt, auf die Waren an der Kasse zeigt und fragt, ob sie den Lolli oder die Bonbons haben kann, die Mutter mechanisch „Nein!“ sagt, ohne allerdings hinzuschauen, worauf ihr kleiner Sonnenschein denn zeigt. Es dann aber doch tut und es ihr augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht treibt, weil die Kleine auf die Kondome und die daneben hängenden Schwangerschaftstests deutet. Und dann frage ich mich, ob die Mutter sich auch jemals gefragt hat, warum diese beiden Produkte zwingend nebeneinander platziert werden müssen. Wahrscheinlich nicht. Sie greift nach einem Überraschungsei und legt es auf das Band. Das Mädchen gluckst freudig.

Während des Wartens wird unwillkürlich begutachtet, was die Anderen so zu kaufen gedenken. Der ein oder andere „Igitt-“ oder „könnte ich auch schnell noch holen, muss dafür aber meinen Platz in der Schlange aufgeben, also lass ich es“-Gedanke huscht durch die Einzimmerwohnung über dem Hals und wird durch zahlreiche weitere ergänzt. „Was die Leute bei meinem Einkauf wohl von mir denken?“ „Warum trödeln die da vorne denn schon wieder so?“ „Haha, ja, Scheiße, ne? Am Pfandautomaten hat heute keiner Glück. Du Armer!“

Während ich den jungen Mann dabei beobachte, wie er mit seinen zwei Müllsäcken voller Dosen vor dem Gerät verzweifelt, denke ich über Empathie nach, frage mich, ob sie anerzogen oder qua Geburt gegeben ist – und ärgere mich umgehend über mich selbst, weil ich das eigentlich wissen sollte, tippe aber vorsichtshalber auf 50/50, um mich nicht unnötig weiter zu verärgern. Dann lache ich kurz in mich hinein und schweife gedanklich ab, weil ich mir vorstelle, dass wir alle eine Payback-Karte für das Leben haben, auf der Empathie- und Reuepunkte gesammelt werden. Ein vereinfachtes System, das Karma-Punkte für „wahrscheinlich gut“ und „wahrscheinlich schlecht“ für Umwelt, Mensch und Tier verteilt.

Empathiepunkte gäbe es zum Beispiel dafür, dass wir einer Dame im fortgeschrittenen Alter im Bus unseren Sitzplatz anbieten oder unsere Fahrkarte bei einer Kontrolle länger als notwendig suchen, damit der, der offensichtlich keine hat, eine Chance darauf hat, an der nächsten Haltestelle aus dem Gefährt huschen und ohne Strafe entkommen kann. Reuepunkte gäbe es dann zum Beispiel dafür, dass wir unsere Zimmerpflanzen nicht gießen, bevor wir in den Urlaub fahren oder jemanden den falschen Weg zeigen, obwohl wir den richtigen kennen. Fairtrade- und Bio-Produkte kaufen: Empathiepunkte. Produkte, die in Plastik verpackt sind: Reuepunkte. Getränke in Glasflaschen versus stilles Wasser in PET-Flaschen.

„Bar oder mit Karte?“ werde ich überraschend und mit einem Lächeln durch die Zahnspange gefragt. Ich betrachte nachdenklich meinen Einkauf und antworte nicht ganz passend zur Frage „Sowohl Empathie- als auch Reuepunkte.“ „Okay. Payback-Karte?“ „Ja, auf die Payback-Karte.“ Was rede ich denn da? „Nein, keine Payback-Karte. Bar. Nein, ich will nichts abheben. Danke, Ihnen auch noch einen schönen Tag!“ Ich verstaue alles in meinem Lieblingsstoffbeutel und verlasse den Markt mit einem mitleidigen Blick auf die Frau, die nach den Einkaufskörben sucht.

In diesem Sinne, liebe Leser und Darmstädter: Ein allzeit gutes Punktesystem wünscht Euch,

Eure Moppel

 

Wer ist diese Moppel?

Moppel Wehnemann hat in Frankfurt für das „Caricatura – Museum für Komische Kunst“ gearbeitet und ist aktuell als Fotografin und Bloggerin aktiv. Der Pop-Redakteur Linus Volkmann nennt sie „eine beliebte und prominente Akteurin aus der Titanic-Clique.“ Ihre Hobbys: Bier, American Football, Postkarten und Satire. Außerdem ist Moppel Initiatorin der erfolgreichen Open-Air-Reihe „Bier trinken und Joggern gute Tipps zurufen“. Seit Sommer 2017 bereichert Moppel unseren Kolumnisten-Pool mit ihren Beobachtungen des Alltagswahnsinns.

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