Foto: Privat
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Stolpersteine, Gedenktafeln und Mahnmale erinnern auch in Darmstadt an die Opfer der Nazi-Herrschaft. Doch diese Form der Erinnerung ist irgendwie abstrakt. Wer waren die Menschen, die in unserer Stadt verfolgt oder gar ermordet wurden? Welche Schicksale stecken hinter Namen und Daten? 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt das P die Geschichten einiger dieser Darmstädter.

Was vielen Menschen während der Nazi-Herrschaft auch in Darmstadt fehlte, waren Courage und Menschlichkeit. Doch vereinzelt gab es sie, die stillen und manchmal nicht so stillen Helden, die die schlimmen und bedrückenden Umstände nicht hinnehmen konnten und ihre Mitmenschen nicht vergaßen. Die Sozialdemokratin Elisabeth Kern ist so ein Beispiel.

Geboren am 2. Mai 1880 in Darmstadt wuchs sie nach dem frühen Tod der Mutter in der Familie ihres Onkels Ludwig Bangert im Martinsviertel auf. Dieser hatte selbst drei Kinder und konnte für die begabte Elisabeth das Schulgeld für die höhere Schule nicht aufbringen. So wurde sie Schneiderin und heiratete im Alter von 19 Jahren den jungen Eisenformer und sozialdemokratischen Gewerkschafter Jakob Kern. In den schweren Jahren des Ersten Weltkriegs, als Jakob als Soldat diente, versorgte sie mit Näh- und Aushilfsdiensten die Familie mit vier Kindern, von denen schon bald zwei starben.

Während der Weimarer Republik arbeitete Jakob Kern als Verwaltungsinspektor bei der AOK, war SPD-Vorsitzender und Mitglied des Kreis- und Provinzialausschusses. Elisabeth Kern wurde nach der Einführung des Frauenwahlrechts [12. November 1918; Anm. d. Red.] eine der ersten weiblichen SPD-Stadtverordneten, Mitglied des Kulturausschusses, Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt in Darmstadt und des Arbeiterwohlfahrtsausschusses (AWO). Von ihrer politischen Tätigkeit sind nur wenige Spuren erhalten. Sie hat in dieser Lebensphase aber wichtige Beiträge zu sozialen Themen veröffentlicht und Konferenzen der AWO erfolgreich geleitet.

Unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde Jakob Kern aus seiner Dienststelle bei der AOK entlassen, Elisabeth verlor ihr Stadtverordnetenmandat und den Vorsitz der AWO. Für das Ehepaar folgten Jahre der polizeilichen Überwachung und „Schutzhaft“ für Jakob Kern. Dennoch blieben sie auch in diesen Jahren dem sozialdemokratischen Widerstandskreis um Wilhelm Leuschner [Darmstädter Gewerkschaftsführer und entschiedener Gegner des Nationalsozialismus; Anm. d. Red.] eng verbunden.

Doch im August 1944 schlug das Nazi-Regime mit aller Härte zu: Das Ehepaar Kern wurde verhaftet. Hans Joachim Landzettel, ein Enkel der Kerns, hat den Moment bis heute nicht vergessen: „Sehr gut kann ich mich erinnern, dass es nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 22. August morgens um 6 Uhr an der Wohnungstür Sturm läutete“, so der bekannte Darmstädter Kinderarzt. „Als zehnjähriger Junge rannte ich zur Tür, vor der zwei Gestapo-Beamte und einige Hilfspolizisten standen. Einer der Hilfspolizisten hatte dabei Tränen in den Augen. Er war ein in Darmstadt bekannter Kunstmaler, an dessen Förderung in der Weimarer Zeit meine Großmutter beteiligt war“, beschreibt Landzettel die Szene rückblickend. Jakob Kern wurde als Mitglied des weit verzweigten Widerstandsnetzes um Wilhelm Leuschner mit Hunderten politisch Gleichgesinnten in das Konzentrationslager Dachau deportiert, Elisabeth Kern wurde im Darmstädter Runde-Turm-Gefängnis inhaftiert.

Anfang September wurde Elisabeth Kern aus der Haft entlassen. Beim Bombenangriff in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 konnte sie sich zwar zunächst aus dem Keller ihres Wohnhauses in der Pankratiusstraße 4 befreien, kam dann jedoch beim vergeblichen Versuch ums Leben, ein älteres Ehepaar aus den Flammen zu retten. Das Haus der Familie Kern wurde in der Brandnacht vollständig zerstört. Elisabeth Kerns Name ist in der in Stein gehauenen langen Kette der Namen zu finden, die an der großen Grabstätte für die Opfer der Brandnacht auf dem Waldfriedhof zu lesen sind.

Im Jahr 2003 beschloss die Darmstädter Stadtverordnetenversammlung auf Vorschlag der Frauenpartei – nicht der SPD – eine Straße in der Heimstättensiedlung nach der Sozialdemokratin Elisabeth Kern zu benennen.

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