Foto: Jan Ehlers

Eine Stadt lebt von ihrer Geschichte. Von Hochkultur, von Sehenswürdigkeiten, von Kunst und Kulturgütern. Aber sie lebt noch viel mehr von ihrem Hier und Jetzt, von dem, was gerade entsteht, von lebendiger Subkultur. Es ist müßig zu fragen, was wichtiger ist. Praktischerweise existiert in Darmstadt beides parallel an einem Ort: Die Mathildenhöhe ist mit ihrem Jugendstilensemble der Künstlerkolonie nicht nur heißer Anwärter auf den Titel „Unesco Welterbe“, sie ist mit dem OHA Osthang auch Heimat einer der aktivsten Kulturinitiativen unserer Stadt. Noch.

Seit der Bau des Besucherzentrums am Osthang im Rahmen der Bewerbung zum Welterbe beschlossene Sache ist, bangen die Darmstädter*innen um den alternativen Kulturort auf der Rückseite der Mathildenhöhe. Ob die Künstlerkolonie Welterbe wird, entscheidet sich erst im Sommer 2020. Der zweigeschossige Pavillon aus kreideweißem Stampf- und Sichtbeton wird aber so oder so gebaut, das ist mittlerweile klar. „Die Künstlerkolonie ist ein Markstein in der Entwicklung der Künste und Architektur auf dem Weg in die Moderne des 20. Jahrhunderts und gilt darüber hinaus zugleich als hervorragendes Beispiel eines architektonisch geschlossenen Bauensembles“, lobhudelt Hessens Kunst- und Kulturminister Boris Rhein. Das Besucherzentrum, welches unter dem Motto „Pavillon im Park“ entsteht und dessen Entwürfe im „Konsum Mathildenhöhe“ an der Pützerstraße angesehen werden können, vervollständige dieses Ensemble. Aber was passiert 2020 mit dem OHA Osthang?

Der Osthang war 2014 – also genau 100 Jahre nach der letzten Gesamtausstellung der Künstlerkolonie – im Rahmen des Darmstädter Architektursommers von einer brachliegenden Grünfläche im Osten der Mathildenhöhe in eine temporäre, zeitgeistige Künstlerkolonie verwandelt worden. Mitgewirkt hatten mehrere Architekturbüros und 62 Architektur- und Designstudent*innen; vier Monate lang gab es eine internationale Summer School für experimentelles Bauen. Statt den neu geschaffenen Projektraum anschließend wieder abzureißen, sah die Stadt damals dessen Potenzial und stimmte einer Nachnutzung für Ausstellungen, Vorträge, Diskurse und Veranstaltungen zu – auch, weil durch ihn die Kulturachse zwischen Stadt, Mathildenhöhe und Rosenhöhe geschlossen wurde.

Vom temporären Experiment zum Saisonprojekt

„Damals stand man vor der Frage: Wie kann man Kultur in Darmstadt neu interpretieren? Durch andere Formen, aber auch durch die gleichen?“, weiß Bianca vom OHA-Osthang-Team. In Anlehnung ans Vorjahr wurde der Osthang dann auch im Sommer 2015 bespielt – und seitdem jedes Jahr aufs Neue. Immer, wenn die Stadt beschlossen hatte, dass das Grundstück weiterhin nicht gebraucht würde, konnte das Subkultur-Kleinod weiterexistieren und hangelte sich so von Frühling zu Frühling. In den vergangenen fünf Jahren haben Stadt und die involvierten Institutionen die Zügel dabei immer lockerer gelassen und die Organisation und Gestaltung des Osthangs einem Kollektiv aus ehrenamtlich engagierten Darmstädter*innen übergeben. „Am Anfang waren wir größtenteils Architekturstudenten“, erzählen Lea und Joela aus dem Kollektiv, „aber mittlerweile sind wir ein ziemlich heterogener Haufen: Studenten, Arbeitnehmer, Architekten, Gestalter, aber auch ganz andere Leute machen hier mit.“ Die Gruppe besteht aus rund 35 Leuten, 15 bis 20 davon engagieren sich regelmäßig beim Thekendienst, bei Baumaßnahmen und Veranstaltungen. „Jeder kann dabei seine eigenen Talente einbringen und soll auch nur das machen, worauf er Lust hat. Damit fahren wir sehr gut“, findet Joela.

Die gastronomische Versorgung am Osthang erfolgt auf Spendenbasis, es gibt keine Eintrittsgelder – und auch keine festen Gagen für die Künstler. Rechtlich gesehen ist das Immobilienmanagement der Stadt Darmstadt verantwortlich für das, was am Osthang passiert, aber inhaltlich das Kollektiv: Zwar muss das in Eigenregie zusammengestellte Programm mit dem Kulturamt abgestimmt werden, um sicherzustellen, dass das Nachnutzungskonzept mit seinen elf zu bespielenden Themen wie Architektur, Begegnung, Sprache und Dichtung oder Nachhaltigkeit eingehalten und eine gewisse Vielfalt an Veranstaltungen geboten wird. „Wir sind eben nicht einfach nur ein Biergarten mit Musik, sondern ein Kulturort im Kontext der Mathildenhöhe“, stellt Bianca klar. Und so steht Musikkonzert neben Kunstausstellung oder Foodsharing-Event. Nur der Zapfenstreich um 22 Uhr und eine gewisse Lautstärkegrenze müssen eingehalten werden – aus Rücksicht auf die Anwohner. „Die meisten sind aber sehr tolerant und suchen das Gespräch mit uns, wenn es mal zu laut wird“, sagt Lea.

Nachnutzung mit Auflagen – und lockeren Zügeln

Ein wesentlich größeres Problem als die Nachbarschaft stellte für das Osthang-Kollektiv in der Vergangenheit Vandalismus dar: „Gerade am Anfang gab es viele Einbrüche ins Lager oder in die Main Hall, oft auch nur aus Neugier“, erzählt Bianca. „Auch Graffitis sind total ärgerlich. Den Leuten, die das machen, ist, glaube ich, nicht bewusst, dass hier Herzblut und Arbeit von Menschen drin steckt, die das ehrenamtlich in ihrer Freizeit machen.“ Richtig schlimm wurde es 2017, als nicht nur ein erster Anschlag mit Buttersäure verübt wurde, sondern auch die Cabins, kleine Stelzenhäuser, im unteren Teil des Geländes in Brand gesteckt worden sind: „Die mussten danach aus Sicherheitsgründen komplett zurückgebaut werden, das hat uns schon wehgetan.“

Der zweite Buttersäure-Anschlag im vergangenen Sommer war ähnlich ärgerlich, auch weil er ein großes Loch ins Programm riss: Der gesamte Osthang wurde für sechs Wochen großräumig abgesperrt. „So was ist schon ein Schock, nicht mal nur, weil die Cabins oder das Gelände danach nicht mehr benutzbar waren, sondern wegen der Tatsache, dass überhaupt jemand etwas absichtlich anzündet“, erzählt Manolis, der unter anderem das Cassiopeia-Festival am Osthang organisiert. Der Osthang ist ein Ort der Öffentlichkeit. Damit solche Orte funktionieren, braucht es Respekt füreinander und voreinander – und in diesem Fall auch vor den Menschen, die den Ort immer neu schaffen.

Kulturschaffende mit Herzblut

Denn auch die stetige Arbeit an den Gebäuden wie der Main Hall oder den Bau neuer Elemente wie etwa einer Bio-Toilette übernimmt das OHA-Kollektiv in Eigenregie. „Hier war ja ursprünglich alles nur für eine temporäre Nutzung von vier Monaten geplant“, erklärt Bianca. „Da muss häufig nachgebessert werden. Die Stadt sorgt dafür, dass alle Auflagen erfüllt werden und die Sicherheit gewährleistet ist. Schönheitsreparaturen machen wir selbst.“ Manche Bauten mussten aufgrund von Baumängeln aber auch schon weichen, so etwa das Workshop-Haus, das größtenteils aus recycelten Autoteilen gebaut wurde. „Da standen wir mit Tränen davor, weil das echt ein cooles Ding war. Aber als wir dann den neu entstandenen freien Raum gesehen haben, haben wir direkt andere Visionen dafür gehabt“, erinnert sich Bianca. „So entsteht neuer Raum, und der gibt einen neuen Impuls zum experimentellen Schaffen. Das ist ja auch das Konzept des Osthangs: Immer, wenn etwas nicht vorhanden ist, dann macht man etwas.“ So trat an die Stelle des alten Workshop-Hauses eine Plattform, die auch beim diesjährigen Cassiopeia-Festival eingesetzt wurde.

Was wird 2020?

Vielleicht wird es so ja auch mit dem gesamten Osthang-Projekt sein, wenn irgendwann 2020 tatsächlich die Bagger anrollen. Womöglich kann es sich um das neue Besucherzentrum herum gruppieren und neu erfinden – immerhin sieht dessen Konzept einen großflächigen Park vor, der womöglich auch bespielt werden könnte. Definitiv weg muss die Main Hall. Wann genau, ist noch nicht klar.

Ein bisschen paradox erscheint es schon, dass eine bestehende, junge, lebendige Kulturinitiative einem Besucherzentrum weichen muss, welches vergangene Kultur feiert. Aber das Osthang-Kollektiv denkt flexibler: „Fest steht bisher nur: Wir werden so lange hier sein, wie der Raum da ist. Unsere Aufgabe ist es jetzt, ein mögliches Konzept für den kommenden Sommer zu entwickeln“, sagt Joela. Bianca stimmt ihr zu: „Wenn der Raum da ist, werden wir ihn bespielen. Wenn er nicht mehr hier ist, wird er vielleicht woanders entstehen. Das Projekt Osthang endet ja nicht mit einem Ort, sondern wenn wir sagen: Das war’s.“

Und wer weiß: Vielleicht wird an anderer Stelle in Darmstadt ein neuer Raum für den Osthang frei, den es zu füllen gibt. Bis dahin feiern wir an Ort und Stelle den Rest des Osthang-Sommers 2019. Enden wird dieser mit einem großen Closing-Festival am letzten September-Wochenende: Zwei Tage lang erwartet uns dann in geballter Form alles, was den Osthang in den vergangenen fünf Jahren ausgemacht hat. Und insgeheim hoffen wir dabei auf ein nächstes Jahr … ob an der Mathildenhöhe oder anderswo in Darmstadt.

 

Der September am OHA Osthang

Jeden Donnerstag, 18 bis 22 Uhr: Kleiner Freitag

Fr, 06.09., 18 bis 22 Uhr: Konzert von Junes OD

So, 08.09., 11 bis 13 Uhr: Spendenyoga am Hang

So, 08.09., 14 bis 22 Uhr: ​Kleidertausch

Do, 12.09., 18 bis 21:30 Uhr: Asquare (Elektronische Musik + Videoinstallation)

Sa, 14.09., 14 bis 21 Uhr: Jazz am Hang

So, 15.09., 18 bis 22 Uhr: Wein mit Platon

Do, 19.09., 19 bis 22 Uhr: Vernissage der Fotoausstellung „Mensch Materie / Materie Mensch“ (Finissage am 22.09., 14 bis 20 Uhr)

So, 22.09., 10 bis 14 Uhr: Globales Frühstück mit Viva con Agua und Foodsharing

Fr, 27.09., 18 bis 21 Uhr: OHA Kino

Sa, 28.09. + So, 29.09., 12 bis 22 Uhr: Großes OHA Closing-Festival

www.facebook.com/OHAOsthang