Seit 1997 trägt Darmstadt den Beinamen Wissenschaftsstadt im Titel und auf den Ortsschildern. Mit ihren Ideen, Projekten und Lösungen füllen Forschende an TU und Hochschule Darmstadt oder den Fraunhofer-Instituten dieses Label mit Leben. Das P zeigt Ausschnitte ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit: Projekte, die sich auf Gesellschaft, Umwelt und Alltag auswirken – und die Menschen dahinter.
„So ist es die allmächtige Liebe, die alles bildet, alles hegt.“ Wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Und eine der frühesten Formen, dieses Gefühl auszudrücken, ist: der Liebesbrief. Andrea Rapp, Professorin am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaften der TU Darmstadt, hat sich genau auf das recht altbackene Kommunikationstool spezialisiert: „Gruß und Kuss – Liebesbriefe digital“, lautet der Name des Forschungsprojekts der TU Darmstadt, aus dem ein deutschlandweit wohl einmaliges Liebesbrief-Archiv entstehen soll.
Mehr Liebesbriefe als Andrea Rapp hat wahrscheinlich kein Mensch gelesen. Die Sprachwissenschaftlerin hat Zugriff auf über 20.000 Liebesbriefe. Und deren Vielfalt könnte größer kaum sein: Von 1715 bis ins 21. Jahrhundert umfasst „Gruß und Kuss“ Briefe aller Zeitepochen, außerdem lassen sich Liebeserklärungen aus sämtlichen Milieus finden. Liebesgedichte von großen Persönlichkeiten wie Brecht oder Schiller sind für die Sprachwissenschaftlerin und ihre Kolleg:innen jedoch weniger von Interesse; in „Gruß und Kuss“ sieht sie vor allem „einen Ort für die Familien- und Alltagsgeschichte ganz normaler Leute“. Bedeutender gesellschaftlicher Wandel lässt sich ebenso zwischen den Zeilen herauslesen wie sämtliche aktuelle Krisen und Kriege der damaligen Zeit.
Für Sprachwissenschaftlerin Rapp ist das digitale Liebesbriefarchiv ein Herzensprojekt. Das Spannende an Liebesbriefen sei, dass sie „eine authentische Quelle“ – anders als etwa Zeitungsberichte – also „keine artifiziellen Texte“ sind, so Rapp. Normalerweise sei es für die Wissenschaft wahnsinnig schwer, „an authentische Alltagssprache zu kommen“. Am interessantesten für die Sprachforschung sei aber die natürliche Entwicklung von Wortschatz, Sprachgebrauch und Ausdrucksweise, in der Herr oder Frau Schmidt, Müller, Maier ihre Liebesbriefe verfassten. Wobei es offenbar viel öfter „Herr“ gewesen ist, denn historisch bedingt fiel die Rolle des Anwerbenden eben dem Mann zu. Solche sogenannten Brautwerbebriefe wurden stets klassisch formell gehalten. Kurioserweise taucht der Satz „Ich liebe Dich“ deshalb in Briefen vor dem 20. Jahrhundert gar nicht auf – „das hätte man als zu direkt empfunden“, erklärt Rapp. „Im 19. Jahrhundert hat man nicht so über Gefühle gesprochen.“
Von Plauderbrief bis Kissenzettel
Den klassischen Liebesbrief gibt es laut Rapp nicht. Die Wissenschaftlerin unterteilt in verschiedene Gattungen: Tagebuchbriefe, Plauderbriefe, Liebeserklärungen, Abschiedsbriefe, Dankesbriefe sowie Liebesbriefe zum Jahrestag und Geburtstag. Besonders fasziniert ist die 57-Jährige von „Kissenzetteln“, kurzen Nachrichten, die sich Paare zu schreiben pflegten, einige so kreativ, „wie es kein Dichter hätte schöner formulieren können“. Einer ihrer Lieblingsverse: „Von mir war nur 1 Socken hier / also nahm ich 2 von dir.“
Gegründet wurde das Liebesbriefarchiv bereits in den 90er-Jahren von Professorin Eva Wyss vom Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau. Privatpersonen aus Deutschland und der Schweiz spendeten nach einem Aufruf in den Medien über 6.000 Liebesbriefe für die Sprachforschung. 2014 übernahm Andrea Rapp den Transfer vom analogen in ein digitales Archiv. Ihr Ziel dabei ist es, die Schriftstücke für alle Interessierten online einsehbar zu machen, samt Metadaten wie Wohnort, Datum und Absender. Das Einscannen und Abtippen der Briefe übernehmen Mitarbeiter:innen der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Dass es mit Letzterem noch eine Weile dauern könnte, ist aber kein Geheimnis: „Beim Abtippen der Briefe liegen wir erst bei zehn Prozent“, gibt Rapp zu.
Mach mit bei der Citizen-Science!
Interessierte sollen sich die Briefe allerdings nicht nur ansehen, sondern auch mitmachen. Denn ein weiteres Ziel des Projekts ist, die Bürgerforschung für „Gruß und Kuss“ zu gewinnen. In Form von sogenannter Citizen-Science sollen Bürger:innen sich aktiv an Forschungsvorhaben beteiligen, eigene Ideen entwickeln und darüber auch eigenständige Forschungsfragen formulieren. Neben einem Bildungscharakter erhoffen sich die Forscher:innen, insbesondere junge Leute für die Bürgerforschung zu begeistern, und somit eine neue Sichtweise auf Heimat- und Alltagskultur zu gewinnen.
Bis 2023 soll eine öffentliche App auf den Markt kommen, mit der sich sämtliche Texte zuordnen und analysieren lassen. Gedacht ist die App vor allem für die breite Bevölkerung. Mitentwickler ist Stefan Schmunk, Professor für Informationswissenschaften und Digital Libraries an der Hochschule Darmstadt. Mithilfe der Anwendung erhofft er sich unter anderem, durch die spielerische Auslegung das bürgerliche Forschungsinteresse anzukurbeln. Als Kooperationspartner des Projekts ist der Informatiker zuständig für die Datenmodellierung und -erschließung. Liebesbriefe betrachtet Schmunk als ein weltweites Kulturgut, das allerdings vom Aussterben bedroht ist. Die heutigen Textnachrichten seien dermaßen flüchtig, dass er befürchtet, „dass wir in 100 Jahren das Problem haben werden, genau diese Alltagskultur nicht mehr nachvollziehen zu können“. Die Archivierung und Analyse der gesammelten Liebesbriefe sei also umso wichtiger. Daran, dass er dabei der Richtige für den Job ist, besteht jedenfalls kein Zweifel: Schon seinen ersten Liebesbrief habe er nach eigener Aussage mit einer roten Rose garniert.
liebesbriefarchiv.wordpress.com
Populäre Liebesbrief-Forschung
„Gruß und Kuss“ hat eine Laufzeit von April 2021 bis März 2024 und wird im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es gehört zu den aus 460 Bewerbungen ausgewählten 15 Projekten, die bis Ende 2024 die Zusammenarbeit von Bürgerinnen und Bürgern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inhaltlich und methodisch voranbringen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen geben sollen.