Foto: Alexandros Katsis

Yann Döhner ist in Darmstadt aufgewachsen. Seit einigen Jahren engagiert er sich im besetzten Haus „Notara26“ in Athen. Rund 10.000 Menschen haben dort seit 2015 auf ihrer Flucht Unterschlupf gefunden. Doch die Hausbesetzung ist bedroht. Mit dem P Magazin spricht Yann über das Projekt und erzählt, wie es den Geflüchteten in der griechischen Hauptstadt momentan geht. Ein Gesprächsprotokoll:

„Als ich nach Athen gezogen bin, bin ich immer wieder mal bei Notara26 vorbeigegangen und schließlich dort aktiv geworden. Notara26 ist eine Hausbesetzung für Migrantinnen und Migranten. Die Hausbesetzung begann, als im Sommer 2015 zehntausende Geflüchtete auf ihrer Durchreise in den Parks und auf den Straßen von Athen campiert haben. Sie sind von den Inseln gekommen und wollten weiter Richtung Thessaloniki auf die Balkanroute.

Dabei haben Menschen aus der anarchistischen, antiautoritären Bewegung festgestellt, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern ein höheres Schutzbedürfnis haben, als im Zelt zu schlafen und zweimal am Tag Suppe zu essen. Also haben sie ein leer stehendes Bürohaus, Notara26, besetzt. Das Haus wurde von einer kleinen Gruppe geöffnet. Diese hat dann jedoch direkt zu offenen Versammlungen für Interessierte und Menschen aus der Nachbarschaft eingeladen. Es war von vornherein kein Projekt, das einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden sollte. Aus ganz Athen bringen Menschen nun Klamotten oder mal ein Bett oder etwas zu essen vorbei.

Das Haus selbst stand jahrelang leer und ist – soweit wir wissen – noch immer im Besitz des Arbeitsministeriums. Es wurden Wände eingezogen und Duschen eingebaut. Auf fünf Etagen mit jeweils einer Handvoll Räume, einer Toilette, einer Dusche und einer Gemeinschaftsküche finden dort nun zwischen 50 und 100 Migrant:innen Platz. Manche bleiben zwei Nächte, und kaum jemand bleibt länger als zwei Jahre.

Die Umstände im Haus brauchen viel wohlwollendes Aufeinanderzugehen und eine gute Organisation, wer wann kocht. Communitys entwickeln sich meist entlang von Sprachen. Wir haben viele Menschen aus dem Iran, aus Afghanistan, aber auch aus französischsprachigen afrikanischen Ländern oder aus Ostafrika, Eritrea, Sudan, die eher Arabisch oder Englisch sprechen. Das Zusammenleben läuft nicht immer konfliktfrei ab, das ist keine heile Welt. Es ist ein Spiegel der Gesellschaft. Die Probleme der Gesellschaft im Großen finden sich bei uns im Kleinen wieder.

Was Geschlechterverhältnisse und Rollenmuster angeht, ist es tatsächlich eine fortlaufende Lernfabrik für uns alle, weil wir mit unserem politischen Hintergrund doch eine ganz andere Vorstellung von emanzipatorischen Lebensansätzen haben. Einer der faszinierendsten Punkte ist aber, wie sich viele Konflikte durch das gegenseitige Kennenlernen auflösen. Im Mittleren Osten gibt es zum Beispiel einen weit verbreiteten Rassismus gegenüber schwarzen Menschen. Der ist anerzogen, löst sich aber im Austausch auf. Wenn die Leute dann anfangen, sich gegenseitig zum Essen einzuladen, sind das sehr schöne Momente.

 

Foto: Alexandros Katsis

Einmal in der Woche haben wir Generalversammlung mit den Bewohner:innen und Unterstützer:innen. Wir gehen mit den Menschen zum Arzt oder ins Krankenhaus, mischen uns als Hausbesetzung in die politische Bewegung ein, nehmen an Demonstrationen teil, schreiben Statements zu aktuellen politischen Geschehnissen – das ist vor allem mein Schwerpunkt. Ich persönlich habe mich irgendwann entschieden, nicht zu viele soziale Kontakte aufzubauen. Das passiert natürlich dennoch und ich habe sehr viel gelernt dazu, wie man an das Leben herangeht, und ich habe beeindruckende Geschichten gehört von Leuten, die jahrelang zu Fuß unterwegs sind. Aber es ist auch schwer, weil die Leute eben weiterziehen. Deshalb habe ich die Entscheidung getroffen, eine emotionale Grenze zu ziehen und das nicht zu nah an mich herankommen zu lassen.

Notara26 war die erste Hausbesetzung dieser Art in Athen, aber es hat eine ganze Bewegung angestoßen. Zeitweise gab es mehr als 15 Besetzungen – meist von Schulen und kleinen Häusern, die leer standen. In diesen Gebäuden haben parallel bis zu 2.000 Leute Platz gefunden. Noch immer gibt es in Athen sehr viel Leerstand. Allerdings hat die neue Regierung nach der Wahl 2019 angekündigt, alle Hausbesetzungen in Griechenland zu schließen. Wir sind die einzige Besetzung für Geflüchtete, die in Athen überlebt hat. Doch auch uns wurde schon mehrmals der Strom abgestellt, um psychologischen Druck zu erzeugen.

Auch aufgrund der Corona-Pandemie ist die Situation momentan schwierig für uns. Die sowieso schlechte bürokratische Situation verschlimmert sich aktuell dramatisch. Die Leute beantragen zum Teil Asyl, das Erstinterview findet jedoch erst zweieinhalb Jahre später statt. In der Zwischenzeit müssen die Leute irgendwie über die Runden kommen – oder in einem Lager leben, in dem kein Mensch leben sollte.

Mit Notara26 haben wir den Widerspruch, dass wir natürlich allen Menschen helfen wollen. Auf der anderen Seite ist kein Leben möglich, wenn zu viele Menschen in einem Haus wohnen. Da muss man eine Balance finden. Es ist auch schwierig, weil das Haus kein Wohnhaus ist. Da haben wir immer wieder technische Probleme mit Strom oder mit den Abflussrohren, weil die einfach nicht dafür ausgelegt sind.

Es ist wenig, was wir machen, wenn wir ein paar Menschen ein Dach über dem Kopf bieten. Symbolisch ist es aber doch sehr wichtig, denke ich.“

 

Foto: Markos Mathias Manges

Über Yann

Yann Döhner ist in Darmstadt aufgewachsen. Das Studium führte ihn nach Heidelberg und Berlin. Seit mittlerweile vier Jahren wohnt der 44-Jährige in Athen. Dort arbeitet er als Koch und engagiert sich politisch.

 

Seebrücke Darmstadt

Mit politischen Aktionen macht die internationale Bewegung „Seebrücke“, von der es auch einen Ableger in Darmstadt gibt, auf die Situation Geflüchteter im Mittelmeer aufmerksam. Von der Stadt Darmstadt fordert sie als „sicherer Hafen“ unter anderem, proaktiv Geflüchtete aufzunehmen und ein ziviles Seenotrettungsschiff finanziell zu unterstützen.

Zudem kritisieren die Darmstädter Seebrücke-Aktivisten, „dass die Hochschule Darmstadt – konkret geht es da um das Informatik-Institut – mit der bekanntermaßen menschenrechtsverletzenden EU-Grenzschutzagentur Frontex zusammenarbeitet“. Die Forderung lautet: „Keine Zusammenarbeit mit Frontex!“ Zwei Professoren der Hochschule aus der Forschungsgruppe „Biometrie und Internetsicherheit“ hatten 2019 an einer von Frontex betriebenen Fachkonferenz in Warschau teilgenommen.

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