Foto: Cora Trinkaus

Etwa 160.000 Menschen leben aktuell in Darmstadt. Doch was wissen wir eigentlich von unseren Mitmenschen, von unseren Nachbarn – wie sie wohnen, wie sie leben?

Gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, bekommt das Zuhause einen neuen, höheren Stellenwert. Es dient uns als Rückzugsort, wenn das gesellschaftliche Leben nicht im gewohnten Maß stattfinden kann. Wir machen es uns in den eigenen vier Wänden gemütlich.

Doch nur selten blicken wir hinter die Fassaden der Häuser, wenn wir durch unser Viertel schlendern. Meist können wir nur erahnen, wer wohl hinter diesen Mauern wohnt und wie die Wohnung eingerichtet sein mag. Kleine Details im Fenster auf der Fensterbank oder ein Blick in den Garten geben Hinweise auf seine Bewohner. Doch das meiste bleibt uns verborgen.

Die neue P-Serie „Stay The Love Home! – Darmstädter Wohnkultur“ gibt persönliche Einblicke in die Lebenswelten unserer Nachbarn.

Die Wagensiedlung Diogenes

Ein kleiner unscheinbarer Weg führt hinter dem Bessunger Tennisclub, vorbei an ein paar Kleingärten, zur Wagensiedlung Diogenes. Hier lebt Jilly Latumena bereits seit fünf Jahren in ihrem selbst ausgebautem 20 Quadratmeter großen Bauwagen. Mitten in einem Naturidyll. Mitten in Darmstadt.

Die vielen Grünflächen mit Brombeersträuchern, Gräsern und Obstbäumen sind größtenteils naturbelassen. So bieten sie Schutz für zahlreiche heimische Tiere, spenden ihren menschlichen Bewohnern im Sommer Schatten und sorgen für ein angenehmes Klima.

Diogenes ist einer von insgesamt fünf Wagenplätzen in Darmstadt. Die Wagensiedlung ist als Verein organisiert, das Grundstück, das vor der Besetzung 1993 noch Brachland war, von der Stadt gepachtet. Benannt wurde der Wagenplatz nach dem griechischen Philosoph, der der Erzählung nach zeitweise in einem Fass lebte.

Ganz so spartanisch geht es auf dem Bessunger Wagenplatz nicht zu. Dennoch wird von seinen neun Bewohnern (darunter zwei Kinder) sehr auf Nachhaltigkeit und eine ressourcenschonende Lebensweise geachtet. Im gemeinschaftlich genutzten Hygienewagen arbeitet die Klospülung mit Regenwasser. Die Toiletten sind getrennt in Kompost- und Urintoilette. So kann anschließend die „gute Erde“ aus dem Kompostklo für die Beete verwendet werden. Der Platz versucht, so autark wie möglich zu sein. Solarzellen sorgen für die Stromversorgung, zusätzlich kann auf das städtische Stromnetz zurückgegriffen werden. Das Trinkwasser kommt im Sommer von den benachbarten Kleingärten. Im Winter müssen die Leitungen abgestellt und das Trinkwasser mit Kanistern von der Lichtenbergschule geholt werden.

 

Foto: Cora Trinkaus

Von der Konsumhölle ins Naturidyll

Auch wenn diese Art zu leben für manche beschwerlich erscheint, für Jilly „ist es ein Privileg hier zu leben“. Der Wagenplatz ist für sie eine Energiequelle. Hier kann sie nach einem stressigen Tag auftanken, die Ruhe in der Natur genießen und von der Hollywoodschaukel aus ihre Hühner beobachten. „Das beruhigt mich und bringt mich runter“, sagt sie lächelnd.

Früher lebte die gelernte Steinmetzmeisterin und angehende Berufsschullehrerin in einer WG direkt in der Elisabethenstraße, „in der Konsumhölle schlechthin“, wie sie sagt. Sie sehnte sich nach Ruhe, Entschleunigung und danach, im Einklang mit der Natur zu leben. Die Gemeinschaft war ihr dabei ebenso wichtig. Das alles fand sie in der Wagensiedlung Diogenes. Als ein Platz frei wurde, ergriff sie die Chance und bewarb sich. Sie habe großes Glück gehabt, sagt sie, „denn wer einmal auf einem Wagenplatz lebt, bleibt meist für immer“.

Im Eingangsbereich ihres mit Holz verkleideten Bauwagens befinden sich einige Skulpturen und allerlei Fundstücke. Innen ist der Bauwagen ebenso individuell und liebevoll eingerichtet. Vieles ihrer Einrichtung fand sie über die Plattform „Free your Stuff Darmstadt“, bei „ebay Kleinanzeigen“ oder auf Flohmärkten. Das Bett verschwindet tagsüber praktischerweise unter einem Sockel, so bleibt mehr Raum zum Wohnen. Ein Gitarrenkoffer dient als Bücherregal, indonesische Masken und Schattentheater-Figuren (Wayang Kulit) an den Wänden erinnern an ihre indonesischen Wurzeln. Wie auch das Tattoo, welches sie auf ihrem rechten Oberarm trägt: Es stellt die beiden Gottheiten Barong und Rangda dar, die Gottheit des Guten und die des Bösen, was ihr besonders gut gefällt, „denn auch der Mensch spiegelt beide Seiten wider“, erklärt sie.

Draußen hat Jilly ihre eigene Fitnessecke eingerichtet. Hier kann sie an der Himmelsleiter trainieren oder der Kampfkunst Wing Chun nachgehen. Ein kleiner Weg, der mit Holzbrettern ausgelegt ist, führt zum hinteren Teil des Gartens. Hier leben ihre Hühner in einem kleinen Außengehege. Ein Elektrozaun sowie ein Netz über dem Gehege schützt sie vor Fressfeinden wie Füchsen oder Greifvögeln. Einmal, erinnert sich Jilly, habe sich ein Greifvogel im Netz verfangen, der gerade ein Huhn erbeuten wollte. Es gab ein Riesengeschrei im Hühnergehege, bis sich der Angreifer zum Glück wieder selbst befreien konnte und floh. Unter der Außenküche ist der Hühnerstall, in der die Hühner nachts schlafen. Eine kleine Falltür schließt sich abends automatisch und öffnet sich morgens wieder. „Den Luxus möchte ich dann schon haben, dass ich eine Zeitschaltuhr für meine Hühner habe, die mit Strom läuft. Damit ich nicht morgens früh um sechs aufstehen muss, um die Tür aufzumachen“, sagt sie lachend.

Gemeinschaftlich leben

Begegnungsräume wie die Außenküche, das Lagerfeuer, die Bühne, der Werkstattwagen und der Pizzaofen bieten Möglichkeiten, gemeinsam etwas zu machen. Dennoch hat auch jeder Bewohner seinen eigenen Bereich, in den er sich zurückziehen kann. Einmal im Monat findet ein Plenum statt, um die wichtigsten Dinge, die das Leben auf dem Platz betreffen, zu besprechen.

Die Kommunikation sei in der Gemeinschaft manchmal mitunter schwierig. Gerade, wenn viele Individualisten aufeinander treffen, die unterschiedliche Ansichten vertreten, sagt Jilly. „Aber am Ende geht es darum, Rücksicht zu nehmen, dass wir uns gehört und gesehen fühlen, uns gegenseitig akzeptieren in den Lebensstilen und Bedürfnissen und niemand das Gefühl hat, ein Stück seiner Freiheit aufgeben zu müssen.“

Durch Vereinsprojekte wie Wohnwerk Darmstadt, öffentliche Veranstaltungen wie den Figurentheatertagen, Beiträgen in Zeitungen und im Fernsehen sollen gängige Vorurteile gegenüber Wagenplätzen ausgeräumt und Berührungsängste aufgehoben werden. „Wir sind ganz normale Menschen und gehen klassischen Berufen nach. Unsere gemeinsamen Interessen bestehen in bezahlbarem und gemeinschaftlichem Wohnen, kreativer Selbstbestimmung, kulturellem Engagement und einem umweltbewussten Leben.“

 

Foto: Cora Trinkaus

Etwas zurückgeben

Was Jilly an Darmstadt besonders schätzt, ist, dass sie mit ihrer Vereinsarbeit etwas bewirken kann. Sie gründete den Verein Wohnwerk Darmstadt als möglichen vierten Darmstädter Wagenplatz auf städtischem Grund. Außerdem engagiert sie sich bei Vielbunt und Foodsharing Darmstadt. „Ich möchte einfach etwas zurückgeben – in der ein oder anderen Form. Es ist für mich wichtig, Dankbarkeit zu zeigen. Ich habe großes Glück, hier so privilegiert zu leben.“

In Darmstadt sei alles wesentlich dynamischer als zum Beispiel in Hamburg, wo sie früher einmal lebte. „Durch die Vereinsarbeit hat man das Gefühl, dass man die Menschen auch persönlicher kennt. Man kann Dinge viel leichter umsetzen. Das finde ich schön an Darmstadt. Ich möchte nicht unbedingt wieder umziehen“, sagt sie und lacht. „Ich habe mich in Darmstadt verliebt und sehe es auch als mein Zuhause.“

 

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