Sie sitzt vor ihrem Laptop, im Hintergrund eine Grünpflanze, strahlende Augen schauen in die Webcam. Sie trägt kurze Haare aufgrund ihrer letzten Chemotherapie. Ich studiere Psychologie im Master und schreibe hier meine Kolumne über Gefühle im Alltag. Katrin (Name geändert) ist Diplompsychologin, in einem spannenden Arbeitsumfeld, 38 Jahre alt. Und daher: ein echtes Vorbild für mich. Katrin hat die Diagnose metastasierter Brustkrebs mit schlechter Prognose vor knapp drei Jahren erhalten und eine Nachricht für uns alle: „Lebt jeden Tag neu!“ Auch wenn die Welt gerade stillsteht. – Ein Skype-Interview über Leben und Tod – gerade in dieser seltsamen Coronazeit besonders aussagekräftig.
Du hast einen bewegenden Poetry-Slam-Text über Deine Situation geschrieben [, den wir am Ende dieses Interviews abgedruckt haben]. Was hat Dich dazu bewegt?
Katrin: Den Text habe ich sehr früh in meinem Krankheitsverlauf geschrieben. Ich habe im Sommer 2017 das Lied „Himmel berühren“ von Joy Denalane entdeckt. Ich hörte das für mich sehr inspirierende Lied hoch und runter, weil es so eine schöne Botschaft hat. Mir ging es immer schlechter, ich war müde und fertig und wusste auch nicht recht, was mit mir los ist. Dann kam die Diagnose und das Lied bekam eine noch intensivere Bedeutung. Ich bin nach außen getreten, habe viel mit Freunden gesprochen. Und ich hatte natürlich auch eine Auseinandersetzung mit mir – mit meiner Sterblichkeit. Wirklich nichts zu fühlen, an nichts teilnehmen zu können: Mit diesem Gefühl war ich kurz nach der Diagnose mit Freunden unterwegs, wir saßen zusammen in einer Gaststätte und die haben sich über Dinge wie Urlaub et cetera unterhalten und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Aber irgendwann, sogar relativ schnell, da kam mein Humor zurück … Gerettet hat mich ein Stück weit, dass ich wieder Anteil nehmen konnte … Ein Hauptgrund, diesen Poetry-Slam-Text zu schreiben, war, anderen zu helfen und selbst zu verstehen, wie krank ich bin.
Die Zukunft planen ist für viele Leute wichtig. Im Hier und Jetzt zu sein, das fällt manchen Leuten schwer. Wie war das bei Dir und Deinem Umfeld?
Ich lebe – das ist nicht zu vergessen – trotz allem. Die Zukunft ist ungewiss. Aber es ging mir immer besser, je mehr ich im Hier und Jetzt lebe. Ich überlege nicht, was in zwei Monaten ist. Für das Umfeld ist dies schwer, denn da wird geplant. Am Anfang ist es eben genau das, was so schlimm ist: Deine Zukunft endet. Also war es erst mal die Betrauerung, dass man die Zukunft, die man sich einmal vorgestellt hat, nicht mehr haben kann. Loslassen zu können und damit eine neue Perspektive – eine sehr kurze Perspektive – zu schaffen, mit der man besser leben kann.
„Ich verursache Schmerzen, das ist voll scheiße und unfassbar schön.“ Dieser Satz aus Deinem Text „Himmel berühren“ hat mich sehr berührt. Kannst Du uns noch mehr dazu erzählen?
Jetzt muss ich mich mal kurz zusammenreißen. [kurze Pause] Das ist übrigens auch neu: Wenn ich traurig bin, dann bin ich traurig, und dann heul ich – egal wo, egal wie. Ich hab schon überall geheult, beim „Rewe“ an der Käsetheke, weil eine Freundin geschrieben hat: „Alles wird gut.“ Die von Dir genannte Zeile hat auch dazu beigetragen, dass ich gut mit meiner Situation umgehen kann. Denn direkt von Beginn an war die Sorge um die anderen sehr groß. Als ich für mich verstanden habe: Ich werde sterben. Ich weiß nicht wann, aber ich werde daran sterben – das ging für mich sehr viel schneller als für alle anderen. Jedes Mal, wenn ich mein Staging [Feststellung des Ausbreitungsgrades eines bösartigen Tumors] habe, ist meine größte Angst, meinen Freunden zu sagen, dass es schlecht aussieht. Ich habe mir viele Gedanken – auch über die anderen – gemacht: Wie gehe ich mit meinen Freunden um, wie kann ich sie mitnehmen? Dadurch wussten sie von Anfang an, was los ist. Sie wussten, sie können mit mir über alles reden. Dadurch war das Thema Krebs nicht mehr so ein riesiges, es war aber auch nicht ein verschwiegenes Geheimnis. Ich denke, das hat nicht nur mir, sondern auch den anderen sehr geholfen.
Welche Parallelen siehst Du zwischen Deiner Krebsdiagnose und der aktuellen Coronazeit?
Was ich vor allem sehe, ist, dass der Prozess, den ganz Deutschland am Anfang durchlaufen hat, ganz ähnlich ist zu dem Prozess, den man erlebt, wenn man an Krebs erkrankt. Und zwar: Die Welt steht still. So habe ich auch diese Prozesse von Verleugnung, Wut, „Warum passiert mir das“ durchlaufen. Und wir sehen gerade im Moment sehr viel Verleugnung und den Glauben, nicht sterben zu können – und dass das Virus einem eigentlich doch nichts anhaben kann. Auch die Einschränkungen wie das Social Distancing, die man durch Corona erfährt, sind beispielsweise den Einschränkungen während der Chemotherapie sehr ähnlich.
Du meintest in unserem Vorabgespräch, Du möchtest Dich gerne bedanken?
Ich möchte mich sehr gerne bei der onkologischen Ambulanz vom Klinikum Darmstadt bedanken. Bei den Krankenpfleger*innen, die die Chemo verabreichen und Termine machen, gut zureden. Egal, wie viel Stress, egal, was passiert – sie sind immer da. Dies gilt natürlich auch für die Ärzte des Klinikums. Ebenso ein Dank an meine Frauenärztin, die mich begleitet, egal, wo es hingeht.
Was ziehst Du persönlich aus den vergangenen drei Jahren?
Für mich hat der Krebs nicht nur negative Seiten. Ich war noch nie so sehr ich, wie ich das jetzt bin. Es gibt überhaupt keinen Grund mehr, mich zu verstellen – was soll mir denn passieren?
Vielen Dank für das Gespräch. Alles Gute.
„Himmel berühren seit September 2017“
Den Poetry-Slam-Text von Katrin zum Lesen und Hören:
Nun stehe ich hier vor Euch und kann nur sagen, ich habe einen Kampf auszutragen
Einen Kampf mit mir und dem Leben, der Hoffnung und dem Streben
Dem Tod, dem Himmel und dem Tag, an dem wohl all dies kommen mag
Ich kann den Himmel berühren
Die Weichen verstellen
Und jeden Tag neu
Verzeiht mir die Welt
Ich kann den Himmel berühren
Meilenweit sehen
Jeder Tag wird mir neu
Zu Füßen gelegt
Die Sonne scheint, Blätter fallen, Leute lachen und dazwischen ich
Eingefroren, das Handy in der Hand, die Tränen laufen
Der Kopf rast, die Gedanken halten die Luft an, die Welt zieht an mir vorbei
Ich gebe Bescheid, es ist doch nicht alles gut, es ist …
Die Diagnosen prasseln auf mich ein, die Prognose stürzt ins Bodenlose
Betroffene Blicke, Entsetzen, Sprachlosigkeit, langsames Verstehen
Satzfetzen von Ärzten „aber heute ist die Medizin schon sehr weit“ / „Manchmal geht es sehr schnell“ / „Sie hat keine Zeit mehr“
Die Angst lähmt und lässt alles vorbeiziehen, sie macht leer und sinnlos
Macht es denn noch Sinn, oder sollte man jetzt schon aufgeben
Sich hinlegen, denn an nichts hat man Freude, nichts ist mehr gut
Ich kann den Himmel berühren, den Himmel berühren …
Ich akzeptiere, dass mein Leben nicht mehr planbar und alles offen ist
Ich erobere meine Psyche zurück
Meine Stärke, meinen Willen
Ich akzeptiere den bevorstehenden Tod, auch wenn ich das Datum nicht kenne
Mache meine Patientenverfügung, plane meine Beerdigung
Ich bereue nichts, habe keine offenen Rechnungen
Und die Todesangst ist weg
Sie ist in der Schweiz und hält den Notfallplan in der Hand
Verabschiede mein Leben in Trauer
Und begrüße das Neue
Ich fühle mich frei und
Mein Humor kommt zurück, ich kann wieder lachen
Gehe tanzen und bin ständig unterwegs
Lebe das Leben in vollen Zügen
Bin von wunderbaren Menschen umgeben,
Habe mich nie so geliebt gefühlt
Geborgen, gehalten, geachtet
Ich kann den Himmel berühren,
Die Weichen verstellen, die Weichen verstellen
Jeden Tag wird es besser, der Lebensmut kehrt zurück
Die Krankheit beherrscht nicht mehr jeden Tag
Ich erkenne mich selbst wieder
Auch ohne Haare, Wimpern, Augenbrauen
Ich habe skeptische Hoffnung
Und Krebstourette
„Zum Haare raufen“ / „Ich lach mich tot“ / „Ob ich das noch erlebe?“
Außerdem bekommt man ständig Geschenke
Innerhalb von zwei Tagen einen Arzttermin als Kassenpatient
Einen Extrasitzplatz im Wartezimmer
Mit Mundschutz in der Bahn sitzt man alleine
Nach Blutarmut und Bänderriss kann man ohne Make-up bei „The Walking Dead“ mitspielen
Ich habe immer das absolute Totschlagargument: „Ich bin ganz schwer krank.“
Ich fühle mich ein bisschen wie eine Prinzessin
Und werde auch so behandelt
Habe langsam die Befürchtung, dass mir das Ganze die Persönlichkeit versaut
Ich werde noch zu einem verwöhnten Monster
Ich kann den Himmel berühren
Die Weichen verstellen
Und jeden Tag neu
Verzeiht mir die Welt, verzeiht mir die Welt
Natürlich gibt es schlechte Tage und traurige
Habe noch nie so oft geweint
In der Bahn, im Restaurant, am Telefon, beim Spaziergang, beim Einkaufen an der Käsetheke
Das ändert aber nichts daran, dass die meisten Tage gut sind
Dass ich das Leben genieße
Denn ich bin dankbar für jeden Tag
Doch all dies hätte ich nicht geschafft
Ohne meine Ärzte und Schwestern, den Chemo-Buddies
Den weltbesten Freunden und Kollegen
Dafür bin ich dem Krebs dankbar
Er hat meine Fassaden eingerannt
Mir die Augen geöffnet und neue Impulse gegeben
Ich hab erkannt, dass ich mich zurückgestellt und nicht wichtig genommen habe
Ich wollte keine Schmerzen verursachen, niemandem weh tun und austauschbar sein
Jetzt weiß ich, dass ich jemand Besonderes für andere bin und geliebt werde
Ich verursache Schmerzen, das ist voll scheiße und unfassbar schön
Am Ende ist der heutige Tag meine Zukunft
Ich kann den Himmel berühren
Die Weichen verstellen
Und jeden Tag neu
Verzeiht mir die Welt
Ich kann den Himmel berühren
Meilenweit sehen
Jeder Tag wird mir neu
Zu Füßen gelegt
Und so ist das Unfassbare geschehen, 90% Tod und 10% Leben,
Und es ist das Leben geworden
Bin ein Wunderkind
Mit schlechter Prognose
Ohne Angst
Titel und Refrain des Poetry-Slam-Textes zitieren Joy Denalanes „Himmel berühren“
Psychologie-Kolumne im P
Unsere Autorin Lea Sahm studiert Psychologie in Darmstadt, war als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin tätig und hat dabei unter anderem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Im P schreibt sie über Gefühle, mentale Gesundheit sowie den Zusammenhang von Leib und Seele.