Darmstadts neue Turmschreiberin Jule Weber geht offen an ihre neue literarische Challenge heran – und kämpft weiterhin für mehr Anerkennung der Wortkunst Poetry-Slam | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Blaue Haare, Blümchenstiefel und Worte, die unter die Haut gehen – so kennt man Poetry-Slammerin Jule Weber. Die Bensheimerin, die mittlerweile in Bochum lebt, gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Seit 2009 tourt sie mit ihren Texten im gesamten deutschsprachigen Raum und gewann 2012 sowohl die hessischen als auch die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften in der Kategorie U20. 2023 wurde ihr in Hamburg der „Kampf der Künste Award“ verliehen – und Ende Februar wurde sie zur Darmstädter Turmschreiberin gekürt. Das Literaturstipendium des Förderkreises Hochzeitsturm e. V. wird seit 2013 alle zwei Jahre vergeben und ist mit 5.000 Euro dotiert. Jule ist die fünfte Turmschreiberin – und die mit Abstand jüngste. Am 24. Juni geht’s mit einer Lesung im Schatten des Hochzeitsturms auf der Mathildenhöhe los. Im Interview mit dem P erzählt die 29-Jährige von ihrem ganz eigenen Prozess des Schreibens, gesunder Nervosität vor Auftritten und wieso die Kunst des Poetry-Slams immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen hat.

Jule, Du bist die fünfte und jüngste Darmstädter Turmschreiberin. Freust Du Dich darauf, wieder in Deiner alten Heimat zu sein?

Jule: Ja, es ist total schön, wenn da so eine Verbundenheit bleibt. Inzwischen wohne ich ja seit fast sechs Jahren nicht mehr in der Gegend, aber so ganz los komme ich nicht von hier. Und immer, wenn ich denke, dass es vielleicht doch vorbei ist, kommt noch mal so eine Verbindung. Das ist toll.

Hättest Du damals mit 16 Jahren, als Du mit dem Poetry-Slammen angefangen hast, gedacht, dass Du später einmal als Turmschreiberin auserkoren wirst?

Nein. Als ich 16 war, wusste ich auch noch nicht, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Aber zu dem Zeitpunkt habe ich eh einfach nur gedacht, dass ich halt als Hobby so nebenbei schreibe. Ich hätte generell nicht damit gerechnet, dass das Schreiben irgendwann mein Lebensmittelpunkt sein wird.

Hast Du mit 16 schon ähnliche Texte geschrieben wie heute?

Ähnlich wie heute nicht. Gott sei Dank hat sich, was und wie ich schreibe, mit den Jahren weiterentwickelt. Also in erster Linie bin ich froh, mit Ende 20 nicht mehr zu schreiben wie mit 16. Aber ich habe anfangs noch mehr das Gefühl gehabt, dass ich lauter und witziger auf Bühnen sein muss, um gut zu funktionieren. Das habe ich mit der Zeit abgelegt.

Innerhalb des Turmschreiber-Literaturstipendiums ist laut dem Förderkreis eine literarische Auseinandersetzung mit dem Hochzeitsturm erwünscht. Wie lässt sich das für Dich mit Deiner kreativen Freiheit beim Schreiben vereinbaren?

Es ist erst einmal ziemlich egal, was die Vorgabe ist, oder ob eine Vorgabe von außen kommt. Leute schreiben so lange kein Gedicht über den Frühling, bis sie ein Gedicht über den Frühling schreiben. Die Vorgabe, sich literarisch mit dem Hochzeitsturm auseinanderzusetzen, ist ja trotzdem auch wahnsinnig weit gefasst. Letztlich kann ich mit einem Stadtbezug, über Architektur und Historik oder die Aussicht vom Hochzeitsturm schreiben. Da gibt es so viele Möglichkeiten. Das ist nicht so, dass ich eine Liste von hundert Wörtern bekommen habe, die ich auf jeden Fall unterbringen muss. Ich bin aber eigentlich immer ganz dankbar dafür, wenn ich Inspiration von außen bekomme. Mitunter finde ich es nämlich eher umgekehrt schwierig, vor einem leeren Blatt zu sitzen und zu wissen, dass ich jetzt über alles schreiben kann, was ich möchte, aber nicht zu wissen, was genau ich möchte. Natürlich steckt da so ein bisschen der Wunsch dahinter, dass ich mich inhaltlich damit irgendwie befasst habe. Ich habe auch keine Abgabefristen oder so. In erster Linie ist es wirklich ein Stipendium, um mein künstlerisches Tun ohne konkrete Vorgaben unter der Schirmherrschaft des Hochzeitsturm-Vereins zu fördern.

Ist es für Dich etwas Besonderes, vor einem Denkmal wie dem Hochzeitsturm aufzutreten, oder ist für Dich die Location bei Deinen Lesungen eher nebensächlich?

Die Location ist natürlich nicht nebensächlich. Die Frage ist ja auch immer so ein bisschen, wie das Ambiente ist. Das kann ja auch sehr zur Stimmung einer Veranstaltung beitragen. Und da geht es dann nicht nur um den Hochzeitsturm als einzelnes Gebäude, sondern auch um die gesamte Mathildenhöhe. Die ist ja insgesamt als Kulisse wahnsinnig schön und imposant. Und das macht immer was aus. Natürlich ist mir eine Lyrik-Lesung in so einem Umfeld lieber als auf dem Platz hinterm Hauptbahnhof.

Das Literaturstipendium ist ja zeitlich begrenzt. Hast Du schon konkrete Pläne für die Zeit danach?

Nein, nicht so wirklich. Natürlich ein paar Ideen und bei manchen Dingen im Rahmen meiner Freiberuflichkeit weiß ich auch, dass die einfach weiterlaufen werden [wie zum Beispiel die Poetry-Slam-Workshops an Schulen]. Aber viele Dinge ergeben sich da spontan. Ich habe die Anfrage für das Stipendium zur Turmschreiberin im Januar 2023 bekommen. Das heißt, ich wusste bis Januar 2023 nicht, dass ich 2023 und 2024 dieses Stipendium haben werde. Wer weiß, wer mir eine Nachricht im Januar 2025 schreibt, und wie es dann weitergeht? Also genauso wenig, wie ich ein Jahr zuvor damit gerechnet habe, die Darmstädter Turmschreiberin zu sein, bin ich mir sicher, dass auch in den nächsten Jahren Dinge passieren, mit denen ich jetzt noch gar nicht rechne. Irgendwas passiert immer.

Welche Menschen siehst Du bei Deinen Auftritten im Publikum? Sind das eher junge Leute, die sich für Poetry-Slam interessieren, oder zieht sich das Interesse durch alle Altersgruppen?

Ich würde sagen: Das Interesse zieht sich durch alle Altersgruppen und es ist immer sehr abhängig davon, welcher Veranstaltungsort es ist. Wenn man einen Poetry-Slam nimmt, wie zum Beispiel hier in Darmstadt in der Goldenen Krone oder der Centralstation, hat man da eher ein studentisches Publikum. Wenn man aber einen Slam nimmt, der in einem Theaterhaus stattfindet, da hat man dann eher das Theaterpublikum sitzen, das dann vielleicht schon älter ist. Es gibt aber auch immer Überschneidungen.

Bist Du bei Deinen Auftritten als Poetry-Slammerin manchmal noch nervös oder ist das etwas, das sich mit den Jahren gelegt hat?

Ich bin immer noch nervös, aber nicht mehr so sehr wie am Anfang. Wenn Sachen neu sind, dann ist das noch einmal eine ganz andere Nervosität. Ich bin dieses Jahr auch im Rahmen eines Formats aufgetreten, das ich davor so noch nie gemacht hatte. Ich bin probeweise bei einer Comedy-Veranstaltung aufgetreten und habe mich damit ganz weit aus meiner Komfortzone herausgewagt. Davor war ich wieder so nervös wie am Anfang, als ich mit selbst geschriebenen Texten auf der Bühne stand. So eine Grundanspannung bleibt einfach und ich glaube, dass die auch wichtig für den Fokus auf der Bühne ist. Ich hatte zwischendrin auch ein paar Auftritte, vor denen ich überhaupt nicht nervös war. Und die sind meistens nicht so gut gelaufen, weil mir der Fokus und die Konzentration gefehlt haben. Ein wenig nervös sein gehört schon irgendwie dazu.

Ist es schwierig für Dich, Themen für Deine Texte zu finden, oder schreibst Du einfach drauf los, wenn Dir Gedanken durch den Kopf gehen?

Es ist häufig so eine Mischung. Viel, was mir gerade so in den Kopf kommt, aber auch Impulse von außen. Sei es jetzt über das Stipendium oder über andere Aufträge, die ich habe. Natürlich fließt in meine Texte auch häufig eine gesellschaftspolitische Note ein, weil ich doch wieder in irgendeiner Form über Elternschaft oder über eine queere Thematik schreibe. Und natürlich gibt es Leute, die da überhaupt nicht drüber schreiben, weil das in ihrem Leben keine Rolle spielt. Bei denen sind es aber vielleicht ganz andere Themen.

 

Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Du schreibst ja auch sehr offen und ehrlich über die Themen, die Dich beschäftigen.

Ja, ich finde es immer wieder überraschend, was für eine Resonanz manche Texte bekommen, wenn man sich damit auf die Bühne stellt. Für einen selbst sind die eigenen Gedanken ja meistens nicht sonderlich überraschend. Man hat die halt so. Dann ist es ja erst einmal leichter, davon auszugehen, dass alle Leute so denken. Aber dem ist überhaupt nicht so. Und mitunter habe ich schon Texte geschrieben, bei denen ich gemerkt habe, dass das ein total banaler, alltäglicher Gedanke von mir ist, und dann teilt man es aber mit einem Publikum und das sagt: „Wow, auf die Art habe ich über das Thema noch nie nachgedacht.“ Und dann bin ich wiederum überrascht davon. Das ist immer ein schönes Wechselspiel zwischen Schreiben, Auftreten und Texte einem Publikum zugänglich zu machen.

Kommen auch manchmal Leute zu Dir und sagen: „Deine Texte gehen ja mal gar nicht“? Wie gehst Du mit dieser Kritik um?

Ja, auf jeden Fall. Eigentlich ist es weniger Kritik, weil ich finde Kritik hat ja im Idealfall trotzdem auch immer etwas Wertschätzendes und Konstruktives. Aber Ablehnung bekomme ich natürlich. In dem Moment, in dem man sich in die Öffentlichkeit stellt, gibt es immer Leute, die das nicht gut finden, was man macht, oder die einfach nicht gut finden, wer man ist. Das sind oft Menschen, die sich nicht mit meinen Inhalten auseinandersetzen. Die schauen auf meine Texte und sagen: „Oh Gott, guck mal, wie die rumläuft“ oder „Sie hat in einem Text gegendert, ist das überhaupt noch Kunst?“ Diesen Leuten geht es nicht darum, dass ich etwas besser machen könnte, die wollen einfach nur, dass ich damit aufhöre. Und das werde ich halt nicht.

Laut der UNESCO ist die deutsche Poetry-Slam-Szene mittlerweile größer als die der USA. Trotzdem können immer noch viele Menschen hierzulande mit dem Begriff nichts anfangen oder die Arbeit als Poetry-Slammer:in wird nicht ernst genommen. Woran, meinst Du, könnte das liegen?

Ursprünglich ist es ja wirklich eine sehr kleine Subkultur gewesen und die hat inzwischen den Weg in große Häuser und es zu einer gewissen Aufmerksamkeit geschafft. Aber es ist trotzdem noch überschaubar. Und ja, auch schwer festzulegen und einzugrenzen. Letztlich ist Poetry-Slam ein Veranstaltungsformat, bei dem Leute mit selbst geschriebenen Texten aller Art, von einem Publikum bewertet, gegeneinander antreten. Das ist eigentlich ein wahnsinnig absurdes Konzept, weil Texte miteinander verglichen werden, die man gar nicht miteinander vergleichen kann. Und die Leute aus der Szene, die kennt man oft eher als Autor:innen, Kabarettist:innen oder als Menschen, die Comedy machen. In den USA, wo Poetry-Slam ursprünglich herkommt, gibt es eine viel klarere Trennung zwischen offenen Comedy-Bühnen und Poetry-Slams, die sehr lyrik- und spoken-word-zentriert sind. Ich begegne auch immer wieder Leuten, die mitkriegen, dass ich Poetry-Slammerin bin und dann davon ausgehen, dass ich Comedy mache. Es ist für viele immer noch ein Mysterium. Das ist, wie wenn Leute sagen: „Ich war bei Olympia.“ Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob du bei Olympia zum Eiskunstlaufen oder für einen Marathon warst, weil das zwei sehr unterschiedliche Sportarten sind. Es ist leider in der etablierten Literatur-Szene immer noch so, dass Poetry-Slam sehr belächelt wird, als nicht ernstzunehmendes Format und sich das Vorurteil hält, dass es Leute gibt, die gut schreiben, und Leute, die Poetry-Slam machen.

Was würdest Du jungen Menschen, die sich für Poetry-Slam interessieren, aber nicht wissen, wie und wo sie anfangen sollen, oder vielleicht sogar Ängste haben, gerne mit auf den Weg geben?

Ich finde Poetry-Slam bis heute fantastisch, weil es so ein niedrigschwelliges Format ist. Es geht nicht darum, dass man davor Texte einreichen muss und dann Leute entscheiden, ob diese überhaupt auf die Bühne dürfen. Letztendlich wird von einem Publikum abgestimmt, dass einfach situativ entscheidet, wie ihnen der Text gefallen hat, aber nicht nach irgendwelchen Richtlinien. Und da ist die Wahrnehmung super subjektiv. Ich mache das jetzt seit 13 Jahren und auch wirklich lange schon hauptberuflich. Und ja, mich erkennen jetzt manchmal Leute auf der Straße. Aber wenn man jung ist und Bock hat, diese Bühne zu nutzen – egal wie gut oder schlecht das läuft –, dann sprechen einen nicht fünf Jahre später die Leute auf der Straße an und sagen: „Oh, warte mal, bist Du nicht vor fünf Jahren bei diesem kleinen regionalen Poetry-Slam aufgetreten und das Publikum fand Dich mega scheiße?“ Das ist nicht das, was passiert. Und wenn der erste Auftritt Spaß macht, dann macht man halt einen zweiten und wenn der Spaß macht, dann einen dritten und so weiter. Und wenn der erste keinen Spaß macht, dann lässt man es halt. Man unterschreibt ja auch keinen Vertrag, dass man das dreimal im Monat für die nächsten zehn Jahre machen muss. Also: Einfach mal ausprobieren.

 

Jule liest

Am Samstag, 24. Juni, um 20 Uhr liest Jule Weber zum Auftakt ihres Turmschreiber-Stipendiums open air auf dem „Schachbrett“ vorm Hochzeitsturm. Ab 18 Uhr können sich die Gäste zur Musik von DJ Shock Travolta auf dem „Schachbrett“ eingrooven. Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne angenommen.

Auch immer hörenswert: Jules wöchentlicher Podcast „Ich kann nicht gut mit Menschen“, den sie gemeinsam mit Malte Küppers hostet, läuft auf allen gängigen Plattformen.

webersjule.de

hochzeitsturm-darmstadt.eu