Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Am Fuße der Rosenhöhe, gleich hinter dem Löwentor, befindet sich die Neue Künstlerkolonie Darmstadt. Die teilweise hinter Bäumen versteckten Bungalows, die in den 1960er-Jahren erbaut worden sind, dienen auch heute noch als Künstlerhäuser. Gleich im ersten Haus, im Ludwig-Engel-Weg 1, befindet sich das Atelierhaus „LEW1“, das während der Corona-Pandemie insbesondere als digitale Projektionsfläche auffiel. Der 2019 gegründete Darmstädter Verein „Kultur einer Digitalstadt“ bespielt das Atelierhaus und versteht sich als Plattform für Diskussionen über Kulturfragen hinsichtlich der Digitalisierung im kulturellen Kontext. Regelmäßig veranstaltet man Ausstellungen, Gesprächs- und Expert:innenrunden, Konzerte, offene Ateliers. 2023 vergab der Verein zum zweiten Mal eine je sechswöchige Artist-in-Science-Residence, diesmal an die Künstlerinnen Mona Hedayati (10. Mai bis 26. Juni), Violeta López López (19. Juni bis 3. August) und Louise Charlier (4. September bis 19. Oktober). Das P hatte Gelegenheit, mit den Vereinsvorständen Kathrin Göbel, Lukas Einsele und Albrecht Haag über vielen noch nicht geläufige Ziele der jungen Kulturorganisation, über das Scheitern in der Kunst und Wissenschaft sowie über spannende interdisziplinäre Vermittlungsprojekte in der Digitalstadt zu sprechen.

„Kultur einer Digitalstadt“ ist für einige sicherlich erst mal ein etwas abstrakter Name für einen Verein. Wie würdet Ihr Euch definieren und welche Ziele verfolgt Ihr als Verein?

Albrecht: Seit 2017 trägt Darmstadt offiziell den Titel „Digitalstadt“. Eines Nachmittags haben wir uns gefragt, was eigentlich eine Digitalstadt ausmacht, und bei unseren Recherchen eher allgemeine Informationen dazu gefunden. Der Titel „Digitalstadt“ wurde damals vom Digitalverband Bitkom verliehen und mit einer Grafik mit sieben Schlüsselbereichen veranschaulicht. Unter diesen sieben Feldern waren unter anderem das Engagement in Bildung, die Digitalisierung bürokratischer Prozesse sowie das Verkehrsmanagement einer Stadt vertreten. Jedoch blieb ein achtes Feld in der rechteckigen Grafik leer: Wir stellten fest, dass die Kultur völlig vergessen wurde. Die ursprüngliche Konzeption einer Digitalstadt umfasste keinerlei Aspekte der Kultur, was uns dazu veranlasste, Nachfragen zu stellen. Das war der Ausgangspunkt für die Gründung von „Kultur einer Digitalstadt“ im Mai 2018.

Lukas: Im Grunde genommen bieten wir mit unserem Verein eine Plattform im „LEW1“ auf der Rosenhöhe an. Es geht um Kultur, Digitalität und Diskurse innerhalb einer Kommune, die analog und digital stattfinden. Unser Ziel ist es als kulturelle Instanz gesellschaftlich wirksam zu sein und einen Diskurs zu schaffen.

Die Besonderheit Eurer kulturellen Plattform ist, dass Ihr mit Forschungseinrichtungen und anderen Kultureinrichtungen interdisziplinär kooperiert. Wie kommen diese Verbindungen zustande?

Lukas: Es gibt kaum eine bessere Stadt zur Verknüpfung von Wissenschaft und Kunst als Darmstadt. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst gibt es eine sehr lange und wirksame Tradition sowie eine sehr hohe Dichte an renommierten Instituten. Darmstadt beherbergt das erste Universalmuseum deutschland- oder sogar europaweit [das Landesmuseum] – und in unmittelbarer Nähe befindet sich ein Teilchenbeschleuniger. Mit Unterstützung aus Darmstadt werden Sonden und Raumschiffe auf Kometen gelandet. Zudem hat Joseph Beuys hier seine stärkste Arbeit mit dem Block Beuys installiert. Das ist schon spannend!

Albrecht: Und spannend ist auch, dass es ja wirklich mal die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst gab und die Disziplinen nur inzwischen separat voneinander leben. Es braucht etwas Energie, das wieder zusammenzukriegen. Aber wenn es zu solchen Begegnungen kommt, dann ist das super spannend. Und das merken wir vor allem an dem „Artist-in-Science-Residence“-Programm, dass es sehr natürliche Verbindungen gibt.

Kathrin: Es ist eine Herausforderung, aber natürlich auch der richtige Schritt. Wichtig ist der Dialog und das Netzwerk zwischen Wissenschaft, Kunst und den Menschen in Darmstadt. Von diesen Verbindungen eröffnen sich auch immer wieder neue, spannende Ebenen des Austauschs und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit.

Albrecht: Was wir bei der Science-Residence gesehen haben, ist, dass es zum Beispiel einen ganz anderen Zugang zum Scheitern gibt. Kunst lebt ein Stück weit vom Scheitern und schöpft daraus neue Impulse. Für die Wissenschaft und Raumfahrt ist Scheitern hingegen eher keine Option – das ist alles zu teuer und es wird versucht, Scheitern zu verhindern.

 

„Kunst schöpft neue Impulse aus dem Scheitern.“

 

Seit 2022 vergebt ihr sechswöchige Artist-in-Science-Stipendien, die in Kooperation mit Darmstädter Forschungsinstituten wie „hessian.AI“, GSI oder ESOC zusammenarbeiten. Bleibt der Austausch mit den Künstler:innen auch nach dem Stipendium erhalten?

Kathrin: Ja, das ist vielleicht Glückssache, aber wir von der GSI haben noch Kontakt zu Luca Spano [Spano war Stipendiat der Artist-in-Science-Residence 2022 … Dr. Kathrin Göbel ist Astrophysikerin und arbeitet am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt-Wixhausen]. Wir haben über das Stipendium auch Projekte mit ihm gemeinsam realisiert und ein Kunst-am-Bau-Projekt von ihm für unseren neuen Eingangsbereich erworben. Das war ein sehr schönes Projekt, weil wir sehr schnell eine gemeinsame Sprache gefunden haben. Generell war es sehr schön, sich plötzlich die Zeit im stressigen Forschungsalltag genommen und intensiv mit dem Künstler zusammengearbeitet zu haben. Eigentlich müssten wir mal die wertvolle Zeit, die im System verloren gegangen ist, wieder zurückzubringen.

Albrecht: Also eigentlich verfügen wir in unserem Projekt über eine Zeitmaschine, einen Entschleunigungs-Circle. [Alle lachen.]

Die Stipendien gehen aber nicht immer nur an Einzelpersonen, sondern auch an Gruppen …

Lukas: Genau, wir haben im August eine Residence einer Künstlerin, die mit dem Komponisten Arne Gieshoff zusammenarbeitet, wir hatten zwei mit den Darmstädter Tagen der Fotografie oder auch sieben Künstler:innen und Kulturschaffende des internationalen Waldkunstzentrums, die hier eine Woche lang ein Projekt entwickelten. Diesen Sommer wird das Internationale Musikinstitut für eine Woche Kooperationspartner sein.

Albrecht: Unser Verdienst könnte sein, Ideen, die überall herumschwirren, in Gesprächen zu sammeln und daraus Kunstprojekte oder Residenzen zu formulieren, in denen bestimmte Aspekte einer digitalen Transformation diskutiert und behandelt werden. Das bringen wir dann in die Stadtgesellschaft zurück. Aktuell behandelt die Künstlerin Mona Hedayati, die bis Ende Juni im LEW1 wohnt, den Aspekt der Künstlichen Intelligenz (KI). Ihr Werk konzentriert sich auf ihre eigenen Körperdaten. Mithilfe von Körpersensoren liest sie Daten von sich selbst aus und lässt diese von einer KI interpretieren. Dadurch ergeben sich Fragen wie: Welche Daten entstehen da überhaupt? Wer darf mit diesen Daten arbeiten? Was macht die KI aus diesen Daten?

Inwieweit beschäftigt Euch das aktuelle Thema der künstlichen Intelligenz in Eurer täglichen Arbeit?

Albrecht: Durch die Residences und die Kooperation mit hessian.AI setzen wir uns natürlich mit KI auseinander, aber unser Arbeiten selbst hat sich eigentlich nicht verändert, würde ich sagen. Die Fragestellungen sind nun nur aktueller und akuter.

Gibt es ein Projekt, das Ihr neben den fortlaufenden in nächster Zeit verwirklichen möchtet?

Albrecht: Im Sommer wird es eine Physikstunde für Künstler:innen geben. Das wird ein Auftakt einer vermutlich langen Reihe werden. [Lacht.]

Kathrin: Wir werden es mal probieren, ich bin auch schon sehr gespannt. Ich bin das ja gewöhnt, dass ich im Labor oder bei einem Vortrag erläutere, wie Physik funktioniert. Diese Thematik nun mit Künstler:innen zu diskutieren, könnte auf jeden Fall anders werden.

Albrecht: Im letzten Jahr haben wir über ein gemeinsames Vermittlungsprogramm nachgedacht und festgestellt, dass wir aus den Bereichen Kunst und Kultur ähnlich arbeiten wie Physiker:innen. Sowohl Künstler:innen als auch Physiker:innen arbeiten mit Modellen, um eine Vorstellung zu bekommen oder Aussagen zu treffen – da beide nur Vermutungen aufstellen können. Die Arbeitsweisen ähneln sich. Diese führen zu jeweils eigenen Ergebnissen – aber genau das ist es, was uns verbindet und wo wir uns gegenseitig helfen können.

Lukas: Modelle dienen als Kommunikationsmittel – mit einem Modell kommuniziere ich. Dies ermöglicht es mir, einer anderen Person, die möglicherweise nicht so vertraut mit dem Thema ist, zu vermitteln, wo ich mich grade befinde, welche Fragen ich habe und was ich bisher herausgefunden habe.

Foto: Katrin Benstem

Spannend ist auch Euer Projekt „Digitales Kataster der Kulturräume Darmstadts“. Welche Ambitionen verfolgt Ihr hierbei?

Albrecht: Das heißt jetzt „Kulturkarte“, weil doch viele nicht wussten, was ein Kataster ist. Ein Aspekt, der Darmstadt auszeichnet, ist seine überschaubare Größe. Hier gibt es eine Fülle von Hightech, Kunst und Kultur, dennoch sind die Wege sehr kurz. Wie können wir unsere Stadtkultur digitalisieren und was bedeutet es überhaupt, ein digitales Abbild einer Stadt zu erzeugen? Hier kommt die Kulturkarte ins Spiel, die Orte digital erschließt und das kulturelle Programm einer Stadt abbildet. Im partizipativen Gespräch ergeben sich neue Orte und Angebote. Unser Ziel ist es, eine interaktive Plattform zu schaffen, die auch Bottom-up-Angebote darstellt.

Hierzu habt Ihr bereits im Juli 2021 eine Bürger:innenbeteiligung gestartet …

Albrecht: Ja, genau. Wir haben den Stadtplan groß ausgedruckt, am Osthang aufgehängt und nach Kulturorten in Darmstadt gefragt. Die Karte zeichnete sich durch eine Besonderheit aus: privater Raum und öffentlicher Raum war unterschiedlich farbig dargestellt. In erster Linie ging es darum, zu erkennen, was in einer Stadt eigentlich „meins“ ist, was allen gehört, – und was nicht zugänglich ist. Der nächste Impuls war, neue Orte zu identifizieren, zu erkunden und interaktiv einzutragen.

Konntet Ihr diese Erkenntnisse bereits auswerten und weiter verfolgen?

Albrecht: Zunächst theoretisch – aktuell arbeiten wir an der Realisierung einer Kulturkarte als digitale Plattform und sprechen mit verschiedenen Personen und Institutionen darüber, wie so was weiter gehen könnte. Es ist uns wichtig zu verstehen, welche Anforderungen eine interaktive Kulturkarte für die unterschiedlichen Nutzer erfüllen muss und wo möglicherweise eine Kuratierung oder Redaktion notwendig ist. Hier setzen wir nicht auf KI und Algorithmen – sondern auf das Know-how einer kulturell aktiven Kommune. Es geht also darum, das partizipative Element einer Kulturkarte zu berücksichtigen, anstatt nur eine Top-down-Kultur oder einen Veranstaltungskalender zu publizieren, der von einem Veranstalter erstellt wird.

Lukas: Es handelt sich um ein hybrides Projekt, das sowohl analog als auch digital funktioniert und hauptsächlich diskursiv angelegt ist. Digitale Bereiche gibt es jetzt schon in Form einer App, die nun erprobt werden muss. Unser Ziel ist es jedoch, darüber einen Diskurs anzulegen. Eine Stadt besteht aus Bäumen, Straßen, Häusern, Menschen, aber sie umfasst auch große digitale Sphären, die weitgehend unreglementiert sind. Jeder kann dort tun, was er will, wie er will und wo er will. Die Idee besteht darin, dass die Kommunen sehr bald darüber nachdenken sollten, wie die digitalen Sphären einer Stadt, einer Region, eines Landes wieder souverän in die Kommune integriert werden können – und zwar auf partizipative Weise. Die Kulturkarte ist ein Ansatzpunkt dafür. Wir lernen daraus, wie digitale Räume funktionieren, wie wir uns diese wieder aneignen, und wir lernen, Daten als Eigentum zu betrachten.

Foto: Kathrin Benstem

Würdet Ihr sagen, dass die Corona-Pandemie eher Chance oder Herausforderung für Euch war?

Lukas: Wir haben viel gelernt und wir erhielten 2019 vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst eine Förderung für „ein digitales Projekt“. Damit waren in erster Linie Apps gemeint, die zum Beispiel die Vereinsarbeit erleichtern sollten et cetera. Dann kam die Corona-Pandemie und wir dachten uns, dass wir jetzt unter diesen Umständen kein digitales Projekt umsetzen können. Stattdessen haben wir uns entschlossen, diejenigen zu befragen, die am besten mit Krisensituationen umgehen können, nämlich Künstler:innen. Wie bereits angesprochen ist das ja Teil des Programms, Krisen zu provozieren und aus diesen Erfahrungen zu lernen. Während ein normaler Mensch froh ist, wenn es keine Krisen gibt, wurden wir plötzlich mit einer Megakrise konfrontiert. Wir führten 20 Gespräche mit Künstler:innen und Kulturschaffenden zum Projektthema „Nah*einander“. Es ging darum, wie sich ihre Arbeitsweisen verändert haben, welche Bedeutung dies für ihr eigenes Schaffen hat und welche positiven Erfahrungen daraus gezogen werden können. Dabei handelte es sich um individuelles Wissen, das weit über die künstlerische Arbeit hinausging und gesellschaftlich wertvolles Wissen über den Umgang mit Krisen darstellt. Auf jeden Fall hat sich durch die Corona-Pandemie unser Projekt-Horizont erweitert, da wir sonst wahrscheinlich einfach eine App mit den Fördermitteln entwickelt hätten – ohne diese wertvollen Erkenntnisgewinne.

Kathrin, Lukas und Albrecht, vielen Dank für das sehr inspirierende Gespräch!

 

Open Lab

Am Freitag, 22. September, wird das Atelierhaus „LEW1“ (Ludwig-Engel-Weg 1) von 12 bis 19 Uhr zum „Open Lab“. Interessierte können Louise Charlier, der aktuellen Gast-Künstlerin, über die Schulter schauen, ihre Arbeitsprozesse kennenlernen, erste Ergebnisse ihrer Residence sehen und mit ihr über ihr Projekt ins Gespräch kommen.

 

Digitale Schatzkiste

Mehr über die Kultur einer Digitalstadt, ihre Artist-in-Science-Residences, die „Kulturkarte“ und „Nah*einander“-Interviewreihe online unter:

kultur-digitalstadt.de