„Isch bin nackt, na und?“ singt Françoise Cactus von Stereo Total im gleichnamigen Hit. Während in den Kulturmedien vorwiegend über Konzerte, Klubs und Kneipen berichtet wird – sprich: über das Darmstädter Nachtleben –, während sogar ganze Bücher über „Nachts in Darmstadt“ herausgegeben werden, ersetzten wir das „h“ in „Nacht“ durch ein „k“ – und recherchierten, wie Darmstadts „Nacktleben“ eigentlich so ausschaut. Und siehe da, auch mit diesem könnte man ganze Bücher füllen!
Johann Wolfgang von Goethe, der im Mai 1775 zu Gast bei Johann Heinrich Merck in Darmstadt war, soll passionierter Nacktbader im Woog gewesen sein. Aus seinem Reisebericht geht allerdings nur hervor, dass seine beiden Begleiter, die Grafen Christian und Fritz Stolberg, hier nackt gebadet haben. Heute tummeln sich die Nackten im Sommer hauptsächlich an der Grube Prinz von Hessen, am Erlensee in Bickenbach oder am Rodauer See bei Zwingenberg. Im Winter ist dann das Saunieren im Jugendstilbad angesagt.
Historisch betrachtet entspringt die Nacktkultur der Zeit der Lebensreformbewegung und steht hier also im weitesten Sinn in Zusammenhang mit Darmstadt und den (Jugendstil-) Künsten. Im Aufbruch der Moderne finden sich Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kunstwerke, in denen der nackte Körper im Zentrum steht. Unter Bezugnahme auf die griechische Antike und mit Hilfe der Kunst wollte man die Gesellschaft von der Normalität des Nacktgehens überzeugen. Mit der Lebensreformbewegung und dem Motto „Zurück zur Natur“ entsteht die Freikörperkultur (FKK), es etablieren sich zahlreiche Luft- und Lichtbäder in Deutschland.
FKK ist in Darmstadt auch heute noch bestens organisiert: Der Verein Orplid Darmstadt e.V. Bund für Freikörperkultur und Familiensport besitzt bei Weiterstadt eine 8,5 Hektar große Oase für Naturisten und arrangiert sogar bilaterale Treffen mit beispielsweise den Naturisten der französischen Partnerstadt Troyes (www.orplid-darmstadt.de). Unter www.fkk-freun.de unterhalten sich „nacktive“ Menschen namens „Pobäckchen“ oder „Nacktlümmel“ über die besten FKK-Orte oder ähnliches, auch Chattende aus Darmstadt sind darunter. Wer die Nacktheit weniger aus naturistischen Gründen sucht, der muss sich Richtung Bismarckstraße und Kirschenallee orientieren und in das dortige Milieu am Straßenrand eintauchen. Als abgedroschenes Geburtstagsgeschenk für die 50-jährige Tante könnte man in Darmstadt auch einen Nacktputzer engagieren: Mit etwas Glück findet sich eine Annonce des „nackten Staubwedels“ (PLZ 64291) im Netz, der „mit 49 Jahren den Staub aus allen Ecken Deiner Wohnung wedelt“.
Nackte Freizeitaktivitäten stehen mehr in der Öffentlichkeit, als man denkt. Es gibt beispielsweise einen Weltnacktradeltag (www.nacktradeln.de) oder begnadete Nacktjogger (www.nacktjoggen.de). In Darmstadt hat eine Gruppe junger Männer 1997 gar einen Verein mit einem ganz außergewöhnlichen Vereinszweck gegründet: Der Verein trägt den Namen „Weißbiernudisten“ (www.weissbiernudisten.de). Seine Mission besteht im Konsum von Weißbier „in gehobenen Mengenbereichen“, wodurch „der Pflicht zur Rettung der deutschen Bierindustrie“ nachgekommen wird. Zweiter Bestandteil des Vereinszwecks ist das „Nacktsein, in Fachkreisen auch Nudismus genannt. Dieser Zustand war in früheren Tagen auf den übermäßigen Genuss oben genannter Bierspezialität in Zusammenwirkung mit diversen anderen Alkoholika zurückzuführen. Allerdings hat das Nacktsein mittlerweile stark an Bedeutung verloren und wird nur noch in Ausnahmefällen praktiziert“, heißt es auf der Homepage des Zusammenschlusses.
Denkt man an Bier, denkt man Bratwurst. Um ihre eigenen erotischen Vorstellungen vom Fotomotiv. „Bestellen einer Wurst“ zu verwirklichen, ließ sich im September 2009 ein Pärchen nackt inmitten der belebten Darmstädter Fußgängerzone vor einer Imbissbude ablichten. Bis die alarmierte Polizei auftauchte, um weitere Aktaufnahmen zu untersagen, war das Foto längst im Kasten, das Fotoshooting beendet. Nackt und legitim durch Darmstadt wandeln darf nur er: der nackte Jörg. Der stadtbekannte Sachsenhäuser leidet nach eigener Aussage an einer Kleiderallergie und wird –ausschließlich im Adamskostüm auftretend– geduldet, so lange er niemanden belästigt. An einem kalten Januartag vor rund zehn Jahren tauchte Jörg, lediglich mit Pantoffeln bekleidet, im Keller der Bessunger Knabenschule auf, während dort die Vorbereitungen für eine private Party liefen. „Hallo, ich bin’s, der nackte Jörg! Keine Angst, ich laufe immer so rum. Macht ihr eine Party? Prima, ich wärme mich mal ein bisschen hier auf, darf ich mal die Salate vorkosten? Danke, Ihr seid aber nett …“, überrumpelte er die Feiernden, die noch nie von dem Typen gehört hatten. Viel gehört hat man dagegen von dem Theaterstück „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn. Die verrückte Geschichte rund um eine verheerend ablaufende Generalprobe einer Theaterproduktion wird aktuell von der Neuen Bühne Darmstadt (www.neue-buehne.de) gegeben und ist sehenswert. Auch, wenn gar keine Nackigen darin vorkommen.