Es war einmal ein See, an und in dem sich jeder Nachmittag wie Urlaub anfühlt, die Pommes nach Kindheit schmecken und die Zeit ein bisschen langsamer vergeht: der Woog. Das Kultgewässer mitten in Darmstadt zieht seit Generationen Badefreudige an.
Nicht ohne Grund bezeichnete der Schriftsteller Wilhelm Michel den Woog als das „Herzstück jeder Darmstädter Jugenderinnerung“. Was viele nicht wissen: Unter seiner ruhigen Oberfläche verbergen sich so manche historische Kuriositäten und fast vergessene Geschichten, die nur darauf warten, an die Oberfläche geholt zu werden. Wer diesen Text gelesen hat, wird nie wieder so im Woog schwimmen wie zuvor.
Fangen wir ganz einfach an. Was ist „Woog“ überhaupt für ein Name? Laut Wörterbuch der Gebrüder Grimm stammt das Wort vom althochdeutschen „wag“ – Wasser in einer Mulde – und ist mit „Woge“ verwandt. In Südhessen und der Pfalz bezeichnet man damit stehende Gewässer. Übrigens: Das Darmstädter-Musikpreis-gekrönte Indie-Duo Woog Riots hat sich nach dem Gewässer benannt. Im Bandnamen sprechen es Fans außerhalb der Woog-Metropole aber „Wuuuug“ aus – was regelmäßig für stadtweite Diskussionen sorgt.
Kein Natursee
Was doch schon einige Heinerinnen und Heiner wissen: Der Große Woog ist kein Natursee, sondern ein vom Darmbach gespeistes, künstlich angestautes Gewässer. Erste Erwähnung findet der Woogsdamm 1568. Etwa in dieser Zeit wird der Woog auf Initiative von Landgraf Ludwig IV. angelegt. Allerdings nicht zu Badezwecken, denn das Baden im Freien gilt noch als verpönt. Stattdessen dient der kleine See zunächst als Fischteich für die Versorgung des landgräflichen Hofs. Sein Fischreichtum ist so groß, dass eine eigene kleine „Woogsflotte“, die aus mehreren Kähnen besteht, zum Fischen eingesetzt wird. Der Woog sorgt außerdem für einen gleichmäßigen Wasserzufluss für die unterhalb stehenden Mühlen, er dient als Rückhaltebecken, wenn der Darmbach Hochwasser führt, und als Löschwasserteich. Bricht damals ein Feuer aus, so lässt man das Wasser des Kleinen und des Großen Woogs durch die Straßen strömen, damit die Feuerwehr Löschwasser hat.

Exkurs: Der Kleine Woog als Pferdeschwemme – und düsterer Ort
Auch der Kleine Woog war mehr als nur ein Teich. Bereits 1548 taucht er in der Darmstädter Stadtrechnung auf und ist damit etwas älter als sein großer Bruder, der Große Woog. Entstanden durch künstliches Aufstauen des Darmbachs, erfüllt der Kleine Woog ähnliche Zwecke. Explizit wird jedoch auch seine Funktion als Pferdeschwemme erwähnt, wo die Tiere nach der Arbeit getränkt und abgekühlt werden. Im 18. Jahrhundert ist der Kleine Woog außerdem ein beliebter Wasch- und Bleichplatz. Obwohl er damals außerhalb der Stadtmauer und damit ziemlich weit von den Wohnvierteln entfernt liegt, erspart er den Menschen – konkret: den Frauen – das mühsame Wassertragen.
Doch der Kleine Woog hat auch eine düstere Seite: Vom 16. bis 18. Jahrhundert ist er Schauplatz öffentlicher Bestrafungen. Es gibt dort einen Schnappgalgen, bei dem der Übeltäter in einem Schnellkorb so oft ins Wasser „getunkt“ wird, bis ihm der Atem ausgeht. Besonders berüchtigt ist der Fall des Maurermeisters Peter de Colonia von 1582, der wegen seines „leichtsinnigen und liederlichen“ Lebenswandels verurteilt wird. Er überlebt die Prozedur, nur um knapp zehn Jahre später von der Pest dahingerafft zu werden. Im Laufe der Zeit verschmutzen Färbereien das Wasser des Kleinen Woogs und er trocknet immer mehr aus. Vermutlich 1861 wird er endgültig zugeschüttet, um Platz für neue Straßen und Gebäude zu schaffen.
Eiskunstlauf und kühles Bier
Zurück zum Großen Woog. Im Winter wird er noch für etwas anderes Anmutiges genutzt: das Eislaufen. 1579 lässt Georg I. einen Frankfurter Eiskunstläufer kommen, der auf der gefrorenen Woogoberfläche sein Können zeigt. Fun Fact: Damals nannte man das zu diesem Zweck benötigte Schuhwerk nicht „Schlittschuh“, sondern „Schrittschuh“, wie sich aus der offiziellen Hofrechnung und weiteren historischen Quellen ableiten lässt. Zuletzt war das Eislaufen auf dem Woog im Winter 2012 offiziell möglich. Ganz, ganz früher (bis in die 1930er-Jahre) wird das Woog-Eis auch von den Darmstädter Brauereien zum Kühlen des Bieres in den Braukellern unter der Mathildenhöhe verwendet.

Von Schiffen und Geistern
Im 17. Jahrhundert wird der Große Woog zum Austragungsort prächtiger Hoffeste. Besonders legendär: die Taufe von Prinz Georg 1654. Zu diesem Anlass scheut man keine Kosten und Mühen. Am Ostufer des Woogs wird eine hölzerne Burg errichtet, die im Rahmen eines inszenierten Seegefechts von einem „Kriegsschiff“ samt Flotte „angegriffen“ wird. Die Burg verteidigt sich ihrerseits mit reichlich Feuerwerk. Leider hat Prinz Georg nicht viel Gelegenheit, sich wegen der gelungenen Party zu rühmen, da er nach nur knapp einem Lebensjahr verstirbt. In die Geschichte eingegangen ist das Fest trotzdem. 1660 stellt Erbprinz Ludwig VI. erneut eine Seeschlacht nach, bei der acht Schiffe, Jachten und Nachen – das sind kleine, flache Boote – verschiedene Schlachtmanöver ausführen. Musikanten und Trommler sorgen für eine dramatische Untermalung des Geschehens.
Natürlich wurde im Woog trotz des offiziellen Verbots immer wieder gebadet. Der Legende nach planschte um 1775 sogar Goethe, den die Bekanntschaft mit Kriegsrat Johann Heinrich Merck nach Darmstadt gebracht hatte, nackt im Woog. Im Gegensatz zu diesem unbelegten Mythos beweisen Aufzeichnungen einige dramatische Todesfälle durch Ertrinken im Laufe der Jahrhunderte. Darauf spielt die düstere Sage vom Woogsgeist an, die Carl Heinrich Merck zugeordnet wird. Sie handelt von einem Müller, dem durch die Anlage des Großen Woogs das Wasser für seine Mühle abgegraben wird und der sich daraufhin aus Verzweiflung in den Woog stürzt und ertrinkt. Angeblich stößt er dabei einen Fluch aus, durch den „in jedem Jahre ein Mensch im Woog ertrinken solle“. Erst 1828 richtet die Stadt eine mobile Badeeinrichtung auf dem Woog ein.
Kampf der Geschlechter
In der Schwimmschule für Soldaten, die das hessische Kriegsministerium 1831 anlegt, schwimmt Mann ohne Badehose. Das geht jahrelang so, bis empörte Bürger einen Antrag auf Bekleidungspflicht stellen. Das Kriegsministerium lehnt den Antrag ab, weil die finanziellen Mittel nicht für Badehosen reichen. Das Schwimmen im Woog erfolgt streng nach Geschlechtern getrennt. Das Männerbad liegt in der Südwestecke, wo sich heute das Café und die Woogstreppe befinden. Erste Belege für das Vorhandensein eines Damenbads stammen aus den 1870er-Jahren. Dieses war umzäunt, um die Frauen am Hinausschwimmen zu hindern und beide Seiten vor neugierigen Blicken zu schützen. Als ein neues Sprungbrett im Damenbad zu hoch gerät, beschweren sich die männlichen Woog-Besucher, denn nun hätten die Damen freie Sicht auf die ungeschützten Schwimmer im restlichen Woog.
Etwa in diese Zeit fällt die Entstehung und Aufführung der „Woognixe“, einer romantischen Oper in drei Akten mit Ballett von Wilhelm Best. Das Stück ist die Parodie einer Wiener Operette. Kurzzusammenfassung: Ein Gutsbesitzer, der genug von der irdischen Damenwelt hat, angelt sich „an ihrer statt“ eine Nixe aus dem Woog. Das Glück dauert natürlich nicht lange an, die Nixe wird zurück in den See geholt, der Gutsbesitzer bestraft und aus Darmstadt weggeschickt.
1913 muss das Tiefbauamt einen Kieshaufen abtragen, weil ihn Männer mit Feldstechern (gen Damenbad) als Ausguck nutzen. Das Damenbad wird 1927 abgerissen und durch einen Neubau ersetzt – das heutige Familienbad. Nachdem ihn die Stadt zuvor nur vom Großherzog gepachtet hat, geht der Woog 1935 schließlich ganz in den Besitz der Stadt über.

Im Woog des Verbrechens
1816 erscheint eine Druckschrift, in der der Mord des Schustergesellen Johann Philipp Schneider an dem Druckereigesellen Bernhard Lebrecht dokumentiert wird. Darin heißt es, dass Schneider nach der Tat seinen „blutgetränkten Rock“ im Großen Woog auswäscht. Ein Barbier entdeckt die Leiche, Schneider wird überführt, verurteilt und hingerichtet. Dieses düstere Ereignis inspiriert mutmaßlich sogar Georg Büchner zur Verarbeitung in seinem Drama „Woyzeck“. Womit wir bei den Büchners wären …
Von Karpfen und Pflanzen
Laut Kasimir Edschmids Roman über Georg Büchner soll dieser als Kind für Sezierzwecke seines Vaters, der Arzt war, Karpfen aus dem Woog gefischt haben. Obwohl es keine eindeutigen Belege dafür gibt, scheint es naheliegend, dass Büchner auf diese Weise mit dem Sezieren von Karpfen in Berührung kommt. In seiner Promotionsarbeit beschäftigt er sich später nämlich mit dem Nervensystem der Barben, einer Karpfenart.
Lange Zeit glaubt man, der Woog werde durch Wasserpflanzen verunreinigt, und plant daher mehrfach, einen Damm zu bauen, um Teile trockenzulegen und gegen die Wasserpflanzen vorzugehen. Ludwig Büchner, ebenfalls Arzt, Naturforscher und Georgs jüngerer Bruder, klärt jedoch über die wichtige Rolle der Pflanzen bei der natürlichen Wasserreinigung auf und kann das Unterfangen abwenden.
„Der Woog wird zum Meer“
Im Juli 1932 lässt ein Unwetter den Wasserspiegel des Woogs um mehrere Meter ansteigen, wodurch nicht nur die Badestelle „Insel“ komplett überschwemmt wird. „Der Woog wird zum Meer“, beschreibt das Darmstädter Tagblatt die Situation. Der Boden im Woogsviertel kann das viele Nass nicht aufnehmen, sodass Vorgärten und Keller unter Wasser stehen und Menschen beim Überqueren der Straßen knietief durchs Woogswasser waten. Auch der Botanische Garten wird stark beschädigt.
1937 ist die Nazi-Hochburg Darmstadt, konkret der Woog, Ausrichtungsort des Schwimm-Länderkampfes zwischen Deutschland und Frankreich. Zum Abschluss des Wettkampfs gibt es ein großes „Volks- und Sommerfest“, bei dem von der Marine-SA und -HJ betriebene Motorboote Rundfahrten auf dem Woog unternehmen. Ein Jahr später finden auch die deutschen Schwimmmeisterschaften im Woog statt. In beiden Jahren fliegt das berühmte Luftschiff „Graf Zeppelin“ über den Woog.

Von Widerstand und Taufe – die jüngere Geschichte
1973 geht es am Woog heiß her: Um den Herrenschwimmclub „Schlammbeißer“, die Frauenschwimmgruppe „Quallen“ und die Bürgerinitiative „Woogsfreunde“ formiert sich eine Protestgruppe. Gemeinsam wird gegen die Pläne der Stadt, im Woog ein Schwimmleistungszentrum mit beheizten Wannen zu errichten, aufbegehrt. Der Protest ist erfolgreich: Das Zentrum wird stattdessen im Bürgerpark Nord gebaut. Und noch erfreulicher: Ein Jahr später nehmen die Schlammbeißer auch Frauen auf. Zuvor war die Runde auf sechs Herren geschrumpft.
Seit 2008 wird der Woog regelmäßig zum Taufbecken. Bei der ersten Woog-Taufe der evangelischen Kirche werden 60 Menschen mit Woogswasser getauft. Rund 350 Besucher in Bikini oder Anzug bestaunen das Ereignis.
Skeptische Landratten, die weder Woogsgeist noch -nixe begegnen wollen, können sich dem Lieblingssee der Darmstädter:innen auch erst mal „von Weitem“ nähern: In der Kinokomödie „13 Semester“ von 2009 wird er als Kulisse genutzt. Und wer dieses Jahr noch gar nicht dort baden war, geht am besten direkt los. Das „Capri“-Eis kostet heute zwar mehr als die 30 Pfennig aus den Kindheitserinnerungen der Darmstädter Bildhauerin Berit Schmidt-Villnow, doch ein Besuch im Woog ist jeden Cent wert.
Quellen:
Kumpf, Werner (1989): Lieber, alter Großer Woog; Darmstadt: Günter Preuß Verlag.
Schmidt, Agnes; Hausberg, Elke (2009): Waschen, Kochen, Baden – Frauenleben vom Marktbrunnen zum Großen Woog.
Woogsfreunde – Bürgeraktion zum Schutz des Naturbadesees [Hrsg.] (2012): Darmstadt en Woog: 444 Jahre Woog – eine Hommage an Darmstadts grüne Mitte; Edition Darmstadt.
fr.de/politik/cdu-org26591/bahn-frei-11321409.html
Pressestelle der Stadt Darmstadt, Marcus Stippak







