An dieser Stelle müssen ein paar ernsthafte Worte an Paul gerichtet werden. Denn nach Lage der Dinge ist für ihn die Verpflichtung, ein Orakel zu sein, eine Nummer zu groß. Zu seiner Entschuldigung wollen wir anführen, dass mit dem Namen „Paul“ ein anderer Zukunftsdeuter erdrückenden Ruhm erlangte: Der bekannteste Krake auf dem Globus sagte während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 mit atemberaubender Sicherheit die Gewinner voraus. Wenn man so will, hatte das Meerestier damit das Beste aus seinem Leben gemacht, das bis dahin aus einem öden Dasein als lebendes Exponat des Oberhausener Sea Life Aquariums bestand.
Vor einigen Wochen hat sich nun der Dobermann Paul um die Nachfolge als Orakel beworben. Gewiss, es geht nicht um die Weltmeisterschaft, sondern nur um den SV Darmstadt 98, aber es soll ja Menschen in dieser Stadt geben, für die die „Lilien“ die Welt sind. Paul hat nun in einem Sperrmüllhaufen im Martinsviertel einen Ball gefunden, einen magischen Ball, genau genommen: Erstens schmückt ihn eine Lilie, zweitens haben sich darauf sämtliche Spieler der Darmstädter Mannschaft verewigt, die 1979 in die erste Bundesliga aufgestiegen ist. (Nebenbei sollte man mal fragen, wer so etwas wegwirft.)
Zufall? Gibt es ja bekanntlich nicht. Paul gehört Adeline With, und die wiederum arbeitet für das Fanprojekt der „Lilien“. Ha! Wenn das kein deutliches Zeichen ist! Das Sensitive eines Tieres, die kraftvolle Symbolik des Balles plus die Mission von Pauls Herrin: Wer will da noch bezweifeln, dass die Darmstädter in die dritte Liga aufsteigen?
Doch die Gesetze der göttlichen Offenbarung gelten auf der ganzen Welt, nur am Woog nicht. Oder ist Paul als Orakel noch nicht wettbewerbsfähig? Oder ist er gar ein Scharlatan? Gewiss, in Darmstadt kläffen deutlich nervigere Vierbeiner als er. Gäbe es den Preis „Freundlichster Hund Deutschlands“, der Dobermann aus dem Martinsviertel würde stets vordere Plätze belegen.
Doch hilft das den „Lilien“? Was für ein kläglicher Start ins Aufstiegsrennen. Wenn es so etwas wie einen Funken, der auf das Darmstädter Fußballvolk übergesprungen ist, je gegeben hat – er ist längst wieder erloschen. Die Hoffnung auf bessere Zeiten verlor sich auf den Sportplätzen von Pfullendorf, Stuttgart und Hoffenheim. Letztlich ist ja der Aufstieg nie so richtig als großes Thema am Böllenfalltor offiziell angekommen. Der Verein laviert sich verschämt durch den Alltag und diskutiert neuerdings lieber, wie man von den organisierten Fans ein paar Euro Lizenzgebühren abkassiert, wenn diese die Vereinslogos für eigene Fanartikel verwenden. Das „Echo“ als angeschlossener Vereinsnachrichtenübermittler übt sich im Herumeiern – gemäß dem alten Lehrsatz eines alten Chefredakteurs: „Wir dürfen unsere Leser nicht verunsichern.“ Also: Sicherheit durch Meinungslosigkeit.
Gegen solche lokale Verschnarchtheit hat es natürlich ein Orakel schwer, das sollte man zu Pauls Entlastung auch anfügen. Der arme Hund ist ja letztlich völlig überfordert in dieser Stadt. Vielleicht ist es aber auch ganz gut, dass seine Vorhersage mit der Realität nicht ganz übereinstimmt. Denn der Krake Paul ist wenige Monate nach der Fußball-WM gestorben.