Ein Auf und Ab der Gefühle: die Tabellenplatzierung der Lilien | Grafik: Matthias Kneifl

Was war das am 26. April für eine Erlösung, als die Lilien drei Spieltage vor Saisonende den Zweitliga-Klassenerhalt in Köln perfekt machten. Ein überaus versöhnliches Ende einer Saison, in der die 98er zwar nie in die Abstiegszone rutschten, in der sie aber lange Zeit auf die Plätze 12 bis 14 abonniert waren.

Dabei verlief der Start in die Spielzeit vielversprechend. Die Lilien machten einfach da weiter, wo sie in der letzten Saison aufgehört hatten: Sie siegten. Bei vier der ersten fünf Partien (inklusive Pokal) verließen sie den Platz als Gewinner. Und jedes Mal zu null. Wo sollte das noch hinführen? „Nur“ in die von Dirk Schuster ausgegebene „sorgenfreie Spielzeit“? Einige Fans schienen nach oben zu schielen. So manch herzhaftes Geknodder war jedenfalls im darauffolgenden Heimspiel gegen Sandhausen (1:1) nicht zu überhören.

Starker Beginn, starker Einbruch

Dabei nahm diese Partie im September die Tabellenregion vorweg, in die die 98er sukzessive abrutschen sollten. Nicht die Tabellenspitze sollte der Gradmesser werden, sondern Sandhausen und der darauffolgende Kontrahent Dresden (1:4). Als dann Bielefeld unter Flutlicht am Bölle in den letzten Minuten den sicher geglaubten Dreier raubte, war die Irritation perfekt. Und es sollte nicht besser werden. Rückstände wurden zur Gewohnheit, ein ungenügendes Defensivverhalten zur Gewissheit. In Kiel (2:4) war gegen lange Zeit dezimierte Gastgeber rein gar nichts zu holen, so dass gegen den HSV (1:2) eine verunsicherte Lilienelf die Punkte schon vorab an die Elbe hätte schicken können. Den Ehrentreffer steuerte der spielende Stoßstürmer Serdar Dursun bei, ein Neuzugang, der sich für den SVD als Gewinn entpuppte.

In der Länderspielpause im Oktober schien Dirk Schuster an den richtigen Stellschrauben gedreht zu haben. Gegen Regensburg, Fürth und Magdeburg fuhren die 98er sieben Punkte ein. Im Pokal (inklusive Niemeyer-Verabschiedung) spielte sein Team gegen Hertha lange so unbeschwert und giftig, wie man es sich im Ligaspielbetrieb dauerhaft gewünscht hätte. Der Turnaround? Mitnichten! Das Dreieinhalbspielehoch war nur eine kurze Schönwetterfront. Gegen Bochum, Köln und bei Union kamen keine weiteren Punkte aufs Konto, bevor gegen arg im Keller stehende Ingolstädter ein glückliches, weil spät erschwalbtes Remis stand. In Aue führte Einwechselspieler Marvin Mehlem das Team noch zu einem nicht mehr für möglich gehaltenen Punkt. Doch dann holte sich der SVD in Paderborn eine richtige Packung (2:6) ab. Zahlreiche Fans waren da schon längst unruhig geworden. Der uninspirierte „Dirk Schuster“-Fußball nervte viele nur noch. Und wenn dabei keine Siege rausspringen, dann ist solch ein Fußball nur eins: ganz schwere Kost. Die erhoffte Weiterentwicklung nach dem geglückten Klassenerhalt, sie war auf der Strecke geblieben.

Gegengerade weg, Sulu weg

Doch nach der Winterpause war nicht Dirk Schuster weg, sondern neben der Gegengerade auch Leader Aytaç Sulu. Er musste gehen wollen. So ähnlich las sich jedenfalls seine verklausulierte Abschiedsbotschaft auf Facebook. Ein Weggang nach genau sechs Jahren. Klaro, er hatte seinen Leistungszenit überschritten, die Defensive war kein Bollwerk mehr, aber so einen stillen Abschied durch die Hintertür, den hatte man sich aufgrund seiner großen Verdienste sicher nicht gewünscht. Dennoch: In der sportlichen Leitung war wohl die Anzahl seiner Fürsprecher überschaubar. So ging er nach Samsun und Dirk Schuster verlor seinen verlängerten Arm auf dem Feld.

Infolgedessen drehte der SVD kräftig am Transferrad. Fünf Neue kamen, zumeist für die defensive Stabilität. Doch nach späten Glücksmomenten gegen St. Pauli (2:1) war es schon wieder vorbei mit der Herrlichkeit. Nichts wollte besser werden. Beim Schlusslicht Duisburg verlor man (2:3), Heidenheim hatte am Bölle alles im Griff (1:2) und Sandhausen (1:1) konnte nur anhand eines schmeichelhaften Elfers auf Distanz gehalten werden. Nachdem die Spieler die Defizite im Coaching angeprangert hatten, war es im Verbund mit den mageren Ergebnissen an der Zeit, die Reißleine zu ziehen. Dirk Schuster musste gehen, Carsten Wehlmann stieg zum Sportlichen Leiter auf. Er machte Dimitrios Grammozis zum Chefcoach und die sozialen Medien gingen steil. Einen Nachwuchscoach in dieser Situation ans Bölle zu holen sei wahlweise Vetternwirtschaft, zu riskant oder zeuge einfach nur von Inkompetenz.

Viel Knodderer, viel Erfolg

Nun, Grammozis hatte eine Aufgabe – und er bewältigte sie souverän: den Klassenerhalt. In Spielen gegen Kontrahenten auf Augenhöhe war er pragmatisch und zeigte sich schon mit einem Remis zufrieden. Gegen stärkere Gegner, die selbst die Initiative ergreifen und damit auch Räume anbieten, gegen die spielten die Lilien mutig. Die Siege gegen Kiel (3:2), beim HSV (3:2), in Köln (2:1) und gegen Union (2:1) zeigten dies. Selbst wenn bei diesen Spielen und in Magdeburg (1:0) ein formstarker Daniel Heuer Fernandes sowie das nötige Matchglück auf der Seite der 98er waren, so hatte Grammozis die Spieler wieder zu besseren Leistungen animiert. Die Knodderer sind verstummt. Hoffentlich auch in der neuen Saison (gesetzt den Fall, der HSV nimmt ihn uns nicht noch weg), wenn der ehrgeizige Coach sein Team spielerisch voranbringen will. Ansätze waren bereits zu erkennen. Wenn er das in der kommenden Saison erfolgreich manifestiert, dann wäre das für Lilienverhältnisse ein großes Ding. Umso mehr, wenn dabei eine sorgenfreie Spielzeit bei rum kommt, die ihrem Namen von Anfang bis Ende gerecht wird.

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

www.kickschuh.blog

 

„111 Gründe“-Buch strikes back!

Zuletzt war das Buch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“ vergriffen. Seit Mitte März ist es nun in einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage verfügbar. P-Lilien-Kolumnist Matthias Kneifl hat elf Bonusgründe hinzugefügt, die die beiden Bundesliga-Spielzeiten und den letztjährigen Zweitliga-Klassenerhalt unter die Lupe nehmen. Zwei Interviews mit Ex-Lilie Jerôme Gondorf und dem Darmstädter Ironman Patrick Lange zählen ebenfalls zu den neuen Kapiteln. Also: Kopfkino an mit 111, äh 122 Kapiteln über unsere Lilien. Das Buch ist in diversen Darmstädter Buchhandlungen erhältlich.