Foto: VRM-Archiv/Fotograf: Jürgen Schmidt

Schülerinnen und Schüler streiken. Junge Menschen blockieren die Innenstadt. Klingt wie Schlagzeilen aus der heutigen Zeit von Fridays For Future oder der Letzten Generation. Doch es passierte vor 56 Jahren: Darmstadt erlebte im Herbst 1969 regelrechte „Riots“, die bundesweit für Schlagzeilen sorgten. Sie gipfelten in Protesten bei der Verleihung des Büchnerpreises. Der jetzt erschienene Roman „Büchner Sixty-Nine“ beruht auf den damaligen Ereignissen.

„Schulstreiks und Demonstrationen erschütterten prompt die ruhige Musenstadt“, war im Oktober 1969 im „Spiegel“ zu lesen. Mit „Musenstadt“ war Darmstadt gemeint. Viele Leser des Artikels werden sich verwundert die Augen gerieben haben, dass es nicht nur in Berlin und Frankfurt, sondern auch in Darmstadt vom 68er-Geist getragene Proteste gab.

Es waren jedoch nicht Studierende, die die Proteste begannen, sondern zunächst Schülerinnen und Schüler. Auslöser war der sogenannte „Fall Lüdde“: Der junge Studienassessor Heinz Lüdde, der seit einem halben Jahr an der Georg-Büchner-Schule (GBS) unterrichtete, hatte in den Sommerferien seinen Entlassungsbrief vom Darmstädter Regierungspräsidenten Hartmut Wierscher erhalten.

Der Fall Lüdde

Mit Themen und Methoden, die heute fest zum Unterrichtsrepertoire gehören, hatte der Lehrer den Schulleiter, ein früheres SA- und NSDAP-Mitglied, gegen sich aufgebracht. In einer zehnten Klasse behandelte Lüdde die nicht im Lesebuch abgedruckte Geschichte „Ein Liebesversuch“ von Alexander Kluge, in der es um unmenschliche Praktiken in einem KZ geht. Das Thema Nationalsozialismus wurde im Unterricht der damaligen Zeit wenig bis gar nicht behandelt. Und in Sexualkunde – an hessischen Schulen damals neu eingeführt, in konservativen Kreisen umstritten – richtete der Lehrer an Neuntklässler die „Doktor-Sommer“-hafte Frage: „Bist Du der Meinung, dass Jugendliche in Deinem Alter schon praktische intime Beziehungen zum anderen Geschlecht haben sollten?“ Die die Teenager, anonym abgegeben, überwiegend mit „ja“ beantworteten.

Der Elternbeiratsvorsitzende schrieb in einem Brief an den Schulleiter: „Wir können und wollen es nicht dulden, dass von einem Lehrer des Gymnasiums unsere Jungen in einen moralischen Abgrund geführt werden.“ Doch es gab auch andere Stimmen: „Herr Lüdde versteht es, Kritik zu wecken; das macht ihn unbequem. Wir brauchen solche Lehrer!“, hieß es in einem Leserbrief im „Darmstädter Echo“.

Nach einer Vollversammlung in der GBS-Turnhalle trat eine große Zahl an Schülerinnen und Schüler in den Streik und demonstrierte auf dem Luisenplatz vor dem Regierungspräsidium, wo sie laut die Wiedereinstellung Lüddes forderten. Zahlreiche Jugendliche aus anderen Darmstädter Gymnasien solidarisierten sich und zogen mit.

VRM-Archiv/Fotograf: Jürgen Schmidt

Teach-in im Hexagon

Bei einer Blockade der Innenstadt einige Tage später zerbrach die Scheibe einer Straßenbahn, die versucht hatte, sich den Weg durch die Sitzstreikenden hindurch zu bahnen, wie das „Echo“ berichtete. Auf einem turbulenten Teach-in im vollbesetzten Hörsaal im Hexagon (neben dem heutigen Darmstadtium) der Technischen Hochschule – heute TU – verlas Pädagogikprofessor Hans-Jochen Gamm eine von ihm und den Mitarbeitenden seines Lehrstuhls verfasste Resolution, die nach Wiesbaden ging. Mit Lüddes Entlassung würden, hieß es darin, „die Ansätze neuartiger Unterrichtsversuche radikal verhindert“.

Dem Rauswurf des Lehrers folgte der Rausschmiss von zwei Oberstufenschülern, die an ihren jeweiligen Gymnasien, der GBS und dem Ludwig-Georgs-Gymnasium, als „Rädelsführer“ der Proteste herausgepickt worden waren. Zuvor hatten die Schulleitungen gehörig Druck auf die Streikenden gemacht. Es gab Anhörungen, oder besser Verhöre, von Jugendlichen, die sich einem Tribunal aus teils bis zu 25 Lehrkräften gegenübersahen. Alleine von der GBS gingen 200 Briefe raus an Eltern, die gebeten wurden, Begründungen für das unentschuldigte Fehlen ihrer Zöglinge zu geben. Streiks waren – und sind – Schülern nicht erlaubt, weshalb sich die Eltern erfundene Erklärungen aus den Fingern saugen mussten.

Auf die Bühne

Trotz des Exempels, das mit dem Rausschmiss der beiden „Rädelsführer“ statuiert worden war, demonstrierten die jungen Leute weiter; zunehmend verzweifelter, weil ihre Anliegen – mehr Mitbestimmung, ein modernerer Unterricht, Wiederaufnahme Lüddes und der beiden Schulkameraden – kein Gehör fanden. Die Verleihung des Büchnerpreises am 18. Oktober in der Otto-Berndt-Halle an den Autor Helmut Heißenbüttel, die damals live im Fernsehen übertragen wurde und zu der die nationale Presse versammelt war, nutzten sie schließlich als große Bühne: Rund 50 Schüler und Studierende betraten den Saal, stellten einen schwarzen Sarg mit der Aufschrift „Büchners Geist“ auf und verteilten Flugblätter, auf denen stand: „Wir sprechen im Namen des Revolutionärs Büchner Herrn Sabais [Anm. d. Red.: damaliger Kulturdezernent und späterer Oberbürgermeister] als Vertreter einer Administration und der Stadt Darmstadt, die Büchner und seine Idee bekämpfte und weiter bekämpft, das Recht ab, durch eine ‚Büchnerpreisverleihung‘ Büchner für sich vereinnahmen zu wollen.“

Tumult in der Otto-Berndt-Halle

Abgemacht war, dass die Demonstrierenden vor dem offiziellen Teil eine kurze Resolution verlesen und danach die Bühne wieder verlassen sollten. Doch der Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung behauptete, er wisse nichts von einer Abmachung und ließ den jungen Leuten das Mikrofon abstellen. Danach brach ein heftiger Tumult im Saal aus, es wurde geschubst und gestoßen, die Polizei wurde gerufen, die schließlich die jungen Leute unter „Meinungsfreiheit“-Rufen aus dem Saal führte.

Die Akademie hat online auf buechnerpreis.de die damaligen Vorfälle aufgearbeitet, auf der auch das Video der damaligen HR-Übertragung eingestellt ist – unter „Storys: Helmut Heißenbüttel: Störfall“. In dem Video ist deutlich zu sehen, dass die Eskalation eher von älteren Herrschaften in Anzügen ausging als von den jungen Leuten, die sich für den Abend extra in Schale geschmissen hatten. Das Medienecho fiel dementsprechend aus. In der „Zeit“ war zu lesen: „Was die jugendlichen Demonstranten vorfanden, waren abgestellte Mikrofone, war eine außerordentlich aggressiv reagierende Festversammlung, waren Kriminalbeamte in Zivil, die in ihrem Vorgehen gegen die Schüler in fataler Weise an Saalordner der NPD erinnerten. Und da war schließlich die Polizei, die – seit Beginn des Festaktes in Bereitschaft – nach wenigen Minuten eingriff und die Aktionisten vor die Tür setzte.“

Foto: Pit Ludwig (Buechner-Preisverleihung 1969)
Foto: Pit Ludwig (Buechner-Preisverleihung 1969)
Abbildung: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Flugblatt)

Made in Darmstadt: der Schulstreik

Die Störung der Büchnerpreisverleihung war ein letztes Aufglimmen des Protests. Die beiden von der Schule geflogenen Schüler durften ihr Abitur an einem Gymnasium in Bensheim ablegen. Einer von ihnen, Andreas „Andel“ Müller, wurde später Lehrer. Er sagt heute: „Wer damals nicht dabei war, wird erstaunt feststellen, dass nicht Greta Thunberg den ,Schulstreik‘ erfunden hat, sondern eben Darmstädter Schüler.“

Auch Heinz Lüdde erhielt eine neue Chance. Aber auch am Hessenkolleg in Rüsselsheim durfte er nicht lange bleiben. Er gab danach den Lehrerberuf auf, wurde Psychotherapeut und eröffnete eine eigene Praxis bei Hannover. Mit heute 89 Jahren hat er immer noch Patienten; in diesem Beruf, sagt er, habe er seine Erfüllung gefunden.

 

„Büchner Sixty-Nine“: Lesungen en masse

Der Roman „Büchner Sixty-Nine“ (erschienen im Mainbook Verlag) von Frank Schuster verarbeitet die damaligen Ereignisse literarisch.

Zur Lesung am Montag, 8.9, um 19 Uhr, im Literaturhaus Darmstadt werden Heinz Lüdde und Andreas Müller als Zeitzeugen erzählen.

Weitere Lesungen mit Zeitzeugen: Donnerstag, 4.9., 20 Uhr, im Büchnerhaus in Riedstadt-Goddelau + Samstag, 20.9., 20 Uhr, im Agora am Darmstädter Ostbahnhof + Freitag, 26.9., 19.30 Uhr im Südhessischen Handwerksmuseum in Roßdorf.

Mehr online auf: frankschuster.blog

Hintergründe und Videos zum „Störfall“ bei der Georg-Büchner-Preisverleihung 1969 online unter: buechnerpreis.de/buechner/storys/helmut-heissenbuettel-stoerfall

Abbildung: Mainbook Verlag (Buch-Cover)