Rüdiger Fritsch wird diesen Oktober nach 13 Jahren aus dem Amt des Vereinspräsidenten beim SV Darmstadt 98 ausscheiden. Der gebürtige Frankfurter begleitete den Klub zunächst als Präsidiumsmitglied durch das erfolgreich abgewendete Insolvenzverfahren und führte ihn anschließend durch seine sportlich erfolgreichsten Jahre. Zeit für einen differenzierteren Rückblick auf die Ära Fritsch.
Ein leichtes Erbe hatte Rüdiger Fritsch im Jahr 2012 nun wahrlich nicht anzutreten. Denn er folgte auf Hans Kessler, nach dem seit Kurzem am Bölle die kleine Kurve unter der Dugena-Uhr benannt ist. Fritsch folgte damit auf den Präsidenten, der dafür verantwortlich zeichnete, dass der Verein überhaupt weiter bestehen konnte. Selbst wenn Kessler immer betonte, er habe diesen Kraftakt niemals allein bewerkstelligen können, so war er das Gesicht des geglückten Kampfes gegen die Pleite. Und Kessler war damit zugleich Wegbereiter für den folgenden sportlichen Höhenflug.
Gleich die erste Entscheidung ist richtungsweisend
Doch bevor dieser Aufschwung so richtig Gestalt annehmen konnte, war erst mal Rüdiger Fritsch gefordert. Denn nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt fanden sich die Lilien ganz unten in der Drittligatabelle. Dass Fritsch Ende Dezember 2012 Dirk Schuster als Trainer vorstellen konnte, sollte sich als wahrer Segen herausstellen. Die Geschichte ist bekannt: sportlich stabilisiert und dennoch abgestiegen, am „grünen Tisch“ zum Klassenerhalt, BIELEFELD, Durchmarsch in die Bundesliga, gefolgt vom Klassenerhalt. Schuster wusste mit den wenigen finanziellen Mitteln das Optimum herauszuholen. Er hatte den SV Darmstadt 98 wachgeküsst. Aus spärlich bevölkerten Tribünen wurde ein regelmäßig ausverkauftes Haus.
Das neue Bölle als sichtbarstes Erbe der Ära Fritsch
Aber dieses Haus sollte für Fritsch eine weitere Bewährungsprobe darstellen. Denn das alte Bölle taugte beim besten Willen nicht mehr für Profifußball. Es musste eine Lösung her. Sie ließ jedoch quälend lange auf sich warten, da die Stadt als Eigentümerin zwar einige Ideen, aber keinen rechten Plan hatte. Es schien gar so, als ob die Lilien die Nieder-Ramstädter Straße verlassen müssten, um andernorts ein neues Zuhause zu finden. Das blieb uns Fans dann immerhin erspart. Stattdessen ging das Bölle 2017 wieder in Vereinsbesitz über und wurde in den Folgejahren im Bestand umgebaut. Das heutige Stadion mit dem angrenzenden Funktionsgebäude ist das sichtbarste Erbe der Ära Fritsch. Es zeigt beispielhaft, dass ein ehedem abgehängter Klub nun so richtig im Profifußball angekommen ist. Allein der Trainerstab beim SVD umfasst heute so viele Angestellte wie ehedem die ganze Geschäftsstelle. Inzwischen blickt der Klub auf elf Erst- und Zweitligaspielzeiten am Stück zurück. Diesen gesamten Prozess mit Augenmaß und ohne finanzielles Harakiri bewältigt zu haben, das gehört sicher zu den größten Errungenschaften des Präsidiums unter der Führung von Fritsch. Die 98er, sie sind heute im Vergleich zu vielen Profiklubs pumperlgesund. Jeder, der die drohende Insolvenz 2008 miterlebt hat, muss allein diese Tatsache als extrem wohltuend empfinden. Darüber hinaus hat sich die Mitgliederzahl während Fritschs Amtszeit auf 15.000 verzehnfacht.
Fritsch musste auch Lehrgeld zahlen
Bei ihren sportlichen Entscheidungen mussten die Lilien unter Fritsch hingegen immer mal wieder Lehrgeld zahlen. Als mit Dirk Schuster der Vater des Erfolgs 2016 nach Augsburg ging, war die Hilfslosigkeit auf der Kommandobrücke mit Händen zu greifen. Denn ein schlüssiger Plan B war schlicht nicht da. Die Strukturen des Klubs hatten mit den sportlichen Erfolgen nicht Schritt halten können. Mit Holger Fach als Manager und Norbert Meier als Cheftrainer setzte der SVD auf die völlig falschen Pferde und hatte auch nach dem Abstieg in die 2. Liga schwer zu fighten, bevor erst die Rückholaktion von Schuster das Schlimmste abwendete. Auch Ende 2023 wirkte die Vereinsführung alles andere als sattelfest, nachdem der sportliche Leiter Carsten Wehlmann seinen überraschenden Abgang kundtat. Erneut erwiesen sich die 98er als nicht gut aufgestellt. Es dauerte über drei Monate, bis ein Nachfolger gefunden war. Da war die so wichtige Wintertransferphase im Abstiegskampf der Bundesliga längst ohne die notwendigen Upgrade-Spieler beendet. Zudem wurde der bedauernswerte Chefcoach Torsten Lieberknecht regelrecht allein gelassen. Er musste sich nicht nur mit Michael Stegmayer und Tom Eilers um Neuzugänge kümmern, er mutierte auch zum allerersten Öffentlichkeitsarbeiter des SVD. Rund um die Spiele stand nahezu immer nur er vor den Mikrofonen Rede und Antwort. Es bleibt zu wünschen, dass in solchen Momenten fortan planvoller agiert wird.
Wohltuende Kontinuität, aber einige Haare in der Suppe
Fritsch kann man dagegen attestieren, dass unter ihm Kontinuität an der Nieder-Ramstädter Straße eingezogen ist. Eine Hire-and-Fire-Mentalität gibt es bei den Lilien nicht. Auch wenn es schlecht läuft, wird hier an Trainern länger festgehalten als anderswo. Rüdiger Fritsch ist zudem beileibe kein Selbstdarsteller, der sich größer als der Verein gibt. Auch dies eine angenehme Erkenntnis. Manche halten ihm allerdings vor, er habe zu wenig Fannähe gezeigt. Etwas, das man seinem designierten Nachfolger Markus Pfitzner und auch Präsidiumsmitglied Volker Harr nicht nachsagen kann. Das Gespür für die Belange der aktiven Fanszene und der alteingesessenen Anhänger kam Fritsch zum Beispiel bei der Zustimmung für einen Investoreneinstieg in die Deutsche Fußball Liga abhanden. Ein Schritt, der so gar nicht zu den traditionsbewussten 98ern passen wollte. Schließlich fanden sie sich mit diesem Votum im Fahrwasser der Großklubs wieder. Die Entscheidung wirkte mehr vom DFL-Aufsichtsratsmitglied Fritsch angeleitet als vom SVD-Präsidenten Fritsch.
In Erinnerung behalten wird man ihn zudem durch seine vielen Metaphern, die er in seine Äußerungen einbaute. Angefangen von der „kleinsten Wurst in der Theke“ (Bundesliga-Aufstieg 2015) bis zur „fehlenden Scheiß-Kirsche auf der ganzen Torte“ (Bundesliga-Aufstieg 2023). Letzteres flog ihm gehörig um die Ohren, als sich die Lilien im Gegensatz zu Mitaufsteiger Heidenheim völlig chancenlos auf der Bundesligabühne präsentierten. Immerhin zeigte sich Fritsch in der Saisonnachbetrachtung per Vereinsvideo überaus selbstkritisch.
Deutlich mehr Licht als Schatten
So verlässt mit Rüdiger Fritsch kein unfehlbarer Präsident den SVD, aber ein Präsident, der sehr vieles richtig gemacht hat. Das ist mehr, als die meisten anderen Klubpräsidenten von sich behaupten können. Er bewegte sich 13 Jahre lang gemeinsam mit seinen Präsidiumskolleg:innen auf den Spuren seines Vorgängers Hans Kessler. Nun hat Fritsch den richtigen Zeitpunkt gewählt, um die Geschäfte in neue Hände zu geben. Im Stadion am Böllenfalltor wird er ein gern gesehener Gast bleiben.
Smoother Saisonausklang
Sa, 3.5., 13 Uhr: SV Darmstadt 98 – Hamburger SV
So, 11.5, 13.30 Uhr: 1. FC Kaiserslautern – SV Darmstadt 98
So, 18.5., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – Jahn Regensburg
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Zudem führt er seit einigen Jahren Interviews für den „Lilienkurier“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!