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Foto: Kim Epes

47 Minuten – so lange dauert die Fahrt mit der Linie 8, angefangen beim „Goldenen Löwen“, vorbei an „Herkules“ und „Huckebein“ – bis ins Nichts.

Los geht die Reise an der Arheilger Hofgasse, Dreh- und Angelpunkt des 16.000-Seelen-Stadtteils in Darmstadts Norden, direkt an der Rückseite des Restaurants „Zum Goldenen Löwen“. Hier treffen sich Schluckspechte, Gernegroß und Pendler, um, naja, um zu warten eben. Ist ja schließlich ’ne Bahnhaltestelle.

Nach kurzer Fahrt, vorbei an „Fuchsstraße“ und „Im Fiedlersee“ hält die Bahn erneut. Rechter Hand funkelt eine Pyramide chemisch-blau im Sonnenlicht. Ströme von Menschen zieht es allmorgendlich wie magnetisch in dieses an Freimaurer und Templer erinnernde Glaskonstrukt. Doch halt! Lug und Trug wird hier vergeblich gesucht. Bei der Glaspyramide handelt es sich lediglich um die Empfangshalle des Chemie- und Pharmakonzerns Merck. Etwa 8.600 Menschen werden hier abends wieder von der Pyra-mide freigegeben. Ganz ohne Hokuspokus, Simsalabim und schnöder Verschwörungstheorie.

Zwei Minuten später hält die Straßenbahn schon wieder, dieses Mal an Darmstadts denkmalgeschütztem Nordbahnhof. Bitte wo? Darmstadt hat einen Nordbahnhof? Ohne das Logo von Deutschlands Hauptverkehrsunternehmen würde wahrscheinlich nicht einmal der gemeine Bahnfahrer, den im Jahre 1912 eingeweihten Bahnhof als solchen erkennen. Sieht von außen auch eher aus wie eine Scheune mit Kiosk.

Weiter geht die Fahrt Richtung Stadtmitte. „Nächster Halt – Pallaswiesenstraße“ ertönt es aus den Lautsprechern. Die blau-rot-grün gestreifte Fahne der seit 1986 aktiven Darmstädter Studentenverbindung „Freie Burschenschaft Suebia“, die ansonsten immer von einem Balkon gegenüber der Haltestelle hängt und direkt ins Auge springt, weht heute nicht. Da der Bäckerei-Kiosk-Kombinationsladen an gegenüber liegender Ecke kein solcher mehr ist, sondern dort seit neuestem Edeldrahtrosse unter das (wohlhabendere) Volk gebracht werden, ist auch hier nichts sinnlich Interessantes für den Bahnreisenden aufzuschnappen.

Die Bahn fährt nun am Herrngarten entlang und wir widerstehen der Versuchung, unsere Fahrt auf ein Eis im Herrngarten-Café oder ein kühles Bier auf einer der Wiesen zu unterbrechen. Nicht. Wir steigen natürlich aus, trinken ein „Pungscht“ und nehmen die nächste Bahn. Fährt ja schließlich bis halb eins unter der Woche.

Am Willy-Brandt-Platz, wo die Bahn nun Stopp „numero neun“ von insgesamt 34 (Hilfe!) einlegt, liegt auf der rechten Seite das neue 1. Revier der Darmstädter Polizei. An der Haltestelle selbst stehen einige Schüler der sogenannten „Schulinsel“, bestehend aus Eleonorenschule, Justus-Liebig-Schule, Diesterwegschule, sowie dem Gebäude der ehemaligen Friedrich-List-Schule, die ungeduldig auf ihren Abtransport via Bus und Bahn warten.

Links vom Willy-Brandt-Platz befindet sich der „Side-Kebap“, ein Dönerladen, bekannt für seine langen Öffnungszeiten, der dem einen oder anderen Nachtschwärmer schon über Gelegenheitshunger (und Durst!) hinweghalf. Auch der Dönerladen, der davor in der Lokalität beheimatet war, war nicht schlecht. Und der davor auch nicht. Oder war das immer der Gleiche und nur das Flammenschild auf dem Signalwörter wie „frisch“ und „knackig“ stehen, ist neu dazugekommen? Vorbei an Fischgeschäft, Eisdiele und Casino geht die Tour weiter. Keine Haltestelle gibt es leider vor der täglich von 6 bis 5 Uhr geöffneten „Pilsstube Herkules“, die besonders (und nicht erst seit der IDC-Records-Party im Mai) bei jüngeren Nachtschwärmern immer beliebter wird.

Begleitet von Musik aus dem Handy eines anderen Bahnfahrers fahren wir nun ins Herz Darmstadts, mitten auf den Luisenplatz. Die Stadtmitte. Na endlich. Schnell noch was zu trinken kaufen. Trotz langwieriger Getränkeauswahl und einem Typen in der Kassenschlange vor uns, der die zwei Euro für seine Brötchen in Ein- und Zwei-Centstücken auf den Tresen klimpern lässt, wartet noch die gleiche Bahn auf die Weiterfahrt.

Zu (fast) keiner Tageszeit ist man hier alleine. Und auch des Nächtens kreuzen sich an diesem Ort die Wege Tanzwilliger, Heimkehrer und Schlafloser. Über sie alle wacht der „Lange Ludwig“ mit der damals neuen Verfassung des Großherzugtums Hessen in der rechten Hand – und das schon seit 166 Jahren. (Das ist gefühlt ungefähr doppelt solange wie eine Bahnfahrt nach Alsbach.) Das nach Rheinhessen blickende, 40 Meter hohe Ludwigsmonument gilt neben dem Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe als Wahrzeichen Darmstadts und ist deshalb nicht nur für herumlungernde Jugendliche nicht mehr wegzudenken. Was wäre Darmstadt, speziell der Luisenplatz, ohne den „Langen Lui“?

Weiter geht’s gen Bergstraße. Kurz vor der Haltestelle „Rhein-/ Neckarstraße“ machen die Schienen einen Knick nach links und führen nun in Richtung Bessungen, Darmstadts ältestem Stadtteil. An der Rhein-/ Neckarstraße steigt aus, wer zum Beispiel einen Cocktailabend im „Enchilada“ verbringen, im „Stella“ feiern, oder in das „Billard-Bistro“ will. Eine rote Uhr gegenüber zeigt die Entfernungen zu den McDonald’s-Restaurants in allen Himmelsrichtungen an. Hilfreich!

Entlang der Eschollbrücker Straße hält „die 8“ nach kurzer Zeit direkt am Prinz-Emil-Garten, welcher an schönen Tagen zum Sonnenbaden einlädt. Entlang des Parks und vorbei unter anderem am Bessunger Buchladen sowie einem Antiquitätenladen gelangen wir zur Haltestelle „Bessunger Straße“. Direkt gegenüber befindet sich einer der ältesten Clubs Darmstadts – das „Huckebein“. Vor 36 Jahren wurde das damalige Kino zum Club umgebaut. Sagen und Legenden ranken sich um diese Schenke. Doch leider erinnert sich keiner mehr so genau. Bekannt ist nur, dass schon so einige brave Heiner nüchtern hinein und verlobt oder verkracht wieder hinaus gelangt sind. Wem nicht nach Reiberei zumute ist, sollte schnell weiter eilen.

Die nächste Haltestelle „Landskronstraße“ erfüllt mit einem großen gelben „M“, was kurz zuvor angekündigt wurde. Nach einer fettigen Stärkung bietet sich nun allen, die genug von dieser Sause haben, der Ausweg: Direkt um die Ecke kann der geneigte Darmstädter seine Führerscheinprüfung beim TÜV ablegen. Wer auch weiterhin der Umwelt und seinem Geldbeutel Gutes tun will, der fährt weiter. Vorbei geht’s an der Haltestelle „Marienhöhe“, wo gleichnamiges Schulzentrum und Internat auf der Anhöhe thront.

Halbzeit nach 22 Minuten quer durch Darmstadt

Die Straßenbahn verlässt Bessungen und gelangt nach Eberstadt. Die Schienen führen nun vorbei am verlassenen „Lincoln Village“, eine bis 2008 von US-Soldaten genutzte Kaserne und der Anlage „Kanaan“ der evangelischen Marienschwesternschaft. Die Schwestern bieten übrigens einen ganz besonderen Telefon-Service an: Wählt man ihre Nummer, so kann man immer wieder neuen Tonbandaufnahmen von Bibelversen lauschen. Nur den persönlichen Kontakt scheuen sie wohl. Wie sonst sind das elektrische Tor und die hohen Bäume, die das Grundstück umgeben, zu erklären? „Tut Buße – das Himmelreich ist nahe“ steht auf einer Inschrift über dem Eingangstor. Schluck.

Nach drei weiteren Haltestellen erreicht „die 8“ die von Geschäften und Cafés umgebene Wartehalle Eberstadts. An der Haltestelle „Modaubrücke“ lädt die idyllische Kleinstadt-Atmosphäre zum Verweilen ein. Vielleicht hatten die Marienschwestern ja diesen Ort mit Himmelsreich gemeint? Besonders das Café „Strandgut“ fällt dem Bahnreisendem hier auf. Das Café befindet sich in einem unter Denkmalschutz stehendem Gebäude des 16. Jahrhunderts und hat sogar einen hauseigenen, kleinen Strand am Ufer der Modau. Ja, wahrlich. Hier ist sogar höchst wahrscheinlich das Himmelreich. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende und so passiert die Bahn die Haltestelle „Frankenstein“ und aus Eberstadt wird langsam „Malchen“. Auf den ersten Blick die totale Einöde; rechts ein paar Häuser und links der 514 Meter hohe Melibokus.

Der erste Blick trügt nicht, auch in Seeheim-Jugenheim angekommen, gibt es nicht mehr allzu viel zu sehen. Umgeben vom vielen Grün fühlen wir uns auf einmal ziemlich weit weg von Darmstadt. Nicht einmal eine gediegene Trinkhalle ist hier in Sicht.

Schon fast an der Endstation „Am Hinkelstein“ in Alsbach angekommen, kann man sich dem Charme dieser ländlichen Gegend jedoch kaum noch entziehen. Eigentlich hätte man auch mit dem Fahrrad fahren können. Eigentlich. Während des Wartens auf die Straßenbahn Richtung Heimat belauschen wir zwei Leute, die an diesem Tag wohl auch mal raus aus Darmstadt wollten: „Hier gibt es ja gar nichts.“

Mit diesen Worten im Kopf treten wir die Rückfahrt an, voller Vorfreude auf ein weiteres Bier im Herrngarten!