Foto: Darmstädter Sezession

Kann Kunst Leben bewegen? Kann sie etwas umwälzen in Menschen, Gesellschaft, Politik? Ja, sie kann! Davon waren 21 junge Künstler überzeugt, die sich vor 100 Jahren, am 08. Juni 1919, zur wort- und bildkräftigen Vereinigung der Darmstädter Sezession zusammenschlossen. „Die Sezessionisten waren ein Haufen lebenshungriger, wütender Männer, die angetreten waren, der Bourgeoisie in den Arsch zu treten!“ So bringt es Inez Gengelbach, heute Geschäftsführerin der Sezession und Mit-Inspirateurin des Jubiläums-Festivals, mit einem Augenzwinkern auf den Punkt. Ja, sie hatten eine Vision mit ihrer Kunst, die alles miteinander verband – Malerei, Bildhauerei, Musik und Literatur – und sich diese als Schlaginstrumente zu nutzen gedachte. Nur mit deren Hilfe und deren Einsatz sei die Gesellschaft aus der Nachkriegsstarre zu lösen, so der Ansatz der Sezessionisten.

Genau 100 Jahre später: Die Sezession feiert ihr Jubeljahr. Sie feiert jedoch nicht ihr pures Überleben, auch nicht sich selbst, sondern sie stellt Korken krachend die Frage nach wirksamer Gemeinschaft. Nach jenem Gut, das der längst überregional wirksamen Künstlertruppe im Zuge des um sich greifenden Einzelkämpfertums über die Jahrzehnte aus den Augen geraten schien. Kein Wunder: Keine Bewegung, die idealistisch und rebellisch begann, lässt sich über 100 Jahre konservieren. Jugendliche Leichtigkeit zerreibt sich oft an harten Lebensfakten.

Doch jetzt, mit einem Festival der Sinne und Kunst-Kulturen, wird angeknüpft ans wahre Erbe dieser Künstlervereinigung, nämlich der Frage: „Wie lässt sich Gemeinschaft WIRKLICH leben!?“ Der Festival-Titel „Den Bogen spannen“ macht ein Bild daraus: Die Anliegen von 1919 aufgreifen und neu buchstabieren – was lässt sich lernen aus dem Umbruchswillen der jungen Wilden, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg einen gesellschaftlichen Neuanfang witterten?

Ein Stadtfestival der Sinne und Kunst-Kulturen

Die Künstler der Darmstädter Sezession, allen voran die vier Haupt-Akteure der Jubiläumsplanung, Inez Gengelbach, Thomas Blank, Matthias Will und Nikolaus Heyduck, haben die Vorbereitungen zur 100-Jahr-Feier genutzt, um über den Beitrag der Künste zu gelingender Gemeinschaft nachzudenken. Das Stadtfestival, das 25 Darmstädter Kulturorte bespielt, versucht mit seiner dezentral-demokratischen Ausrichtung der komplexen Struktur und Geschichte der Künstlervereinigung gerecht zu werden. Gleichzeitig setzt man ein Zeichen gegen den grassierenden Bewertungswahn und hastiges Konsumieren: „Wir verweigern uns als künstlerisch tätige Menschen […] der schnellen Bewertung und der mindestens genauso schnellen Verwertung“, schreibt Festival-Mit-Initiator Thomas Blank. Ihren Auftrag für das Jubelfest sehen die Sezessions-Visionäre darin, „Kritik daran zu üben, wie wir der Welt als Gesellschaft begegnen“. Sie versuchen zu zeigen, „wie die Beschäftigung mit Kunst zu einer differenzierten Form der Sinnlichkeit beitragen kann. Sofern man ihr Zeit gibt zu wirken und die Bewertung nicht in die Erfahrung hineinragt.“ Die Einladung zum Künste-Festival lautet: Sich gegen das Diktat des Schneller, Funktionabler, Superlativer zu entscheiden und ein entschleunigtes Genießen, eine Form des „vorauseilenden Wohlwollens“, auszuprobieren, um den vielfältigen Beiträgen mit offenen Augen zu begegnen.

130 Künstler mit 76 Veranstaltungen an 25 Orten

Die Komplexität der Angebote lässt sich durch Zahlen nur schwach andeuten: 130 Künstler aus dem Bundesgebiet sowie aus dem Ausland bespielen 100 Tage lang 76 Veranstaltungen an 25 Orten in Darmstadt sowie – als „Funkenflug-Inspiration“ – in Berlin und Frankfurt. Um das rege Kunst-Treiben zeitgemäß und vielfältig präsentieren zu können, hielten unzählige Institutionen die Arme für Kooperationen offen: Darmstädter Museen (Hessisches Landesmuseum, Porzellanmuseum, Kunsthalle) beherbergen Ausstellungen, Ateliers öffnen sich neugierigen Blicken, das Oberfeld wird zur Wirkstätte von sechs internationalen Künstlern, die sich einer Open-Air-Ausstellung entgegen bildhauern. Vorträge, Diskussionen und Filme laden zum Diskurs ein. Das Festivalzentrum im Designhaus beherbergt große Skulpturen-und Malerei-Ausstellungen.

Die Website www.denbogenspannen.de informiert über das Programm und gibt Hintergründe zu den beteiligten Künstlern – und sie liefert Stadtpläne für vier Kunstrouten, die man – das Handy als Navy nutzend – auf den Spuren der Kunst im öffentlichen Raum selbstständig abschreiten kann. In Bewegung geraten und mit Muße wahrnehmen, sodass Kunst wieder Augen öffnen kann: Dieses Festival ist ein echtes Geschenk an Darmstadt!

 

Kunstfestival „100 Jahre Darmstädter Sezession – Den Bogen spannen“ vom 08. Juni bis 15. September 2019

Die Darmstädter Sezession ist eine Vereinigung bildender Künstler, die 1919 aus dem Darmstädter Freundeskreis um die spätexpressionistischen Zeitschriften „Die Dachstube“ und „Das Tribunal. Hessische Radikale Blätter“ hervorging. In diesem Jahr wird sie 100 Jahre alt – und feiert das mit einem 100-tägigen Kunstfestival in ganz Darmstadt.

Papierene Infos und eine katalogisierte Historie zur Darmstädter Sezession liefert an allen Festivaltagen das Designhaus als Festivalzentrum im Eugen-Bracht-Weg 6 auf der Mathildenhöhe.

Nähere Infos und die komplette komplexe Programmübersicht sind abrufbar auf www.denbogenspannen.de oder www.darmstaedter-sezession.de.

Ticket für 100 Tage: 46 € / ermäßigt 32 €

Drei-Tages-Ticket (für drei aufeinander folgende Tage): 18 € / ermäßigt 12 €

Ticket für eine Einzelveranstaltung: 5 € / ermäßigt 3 €

Tickets gibt es online, im Ticketshop im Luisencenter und vor Ort vor Beginn der Veranstaltungen.

 

Programm-Highlights

Vom Festival-Komitee wärmstens empfohlene Kunst-Variationen – eine winzige Auswahl:

Samstag, 08. Juni: Festival-Auftakt mit „Geburtstagsfest“ im Designhaus um 18 Uhr (Eröffnung der Skulpturen-Ausstellung und der Malerei-Schau „Fakt I“ mit großformatigen Exponaten verschiedener Sezessionsmitglieder)

Freitag, 14. Juni: „KunstMahlAnders“ (Konzert mit Michael Sell & Hölderlin Trio & Kulinarik, vor Ort gekochte Köstlichkeiten – mit allen Sinnen Kunst kosten!)

Sonntag, 23. Juni: Eröffnung der Open-Air-Ausstellung des Bildhauer-Symposiums auf dem Oberfeld um 11 Uhr (Führung mit Kurator Roger Rigorth um 12.30 Uhr)

Mittwoch, 04. + 11. September: Kunst-Performances im Foyer des Hessischen Landesmuseums

Samstag, 07. + Sonntag, 08. September: Vortrag zum Roman „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß

Jeden Mittwoch und Donnerstag: „SOULidarity“ (moderierte Diskussionen zum Thema „Gemeinschaft gestalten“ mit Musik und Tanzoption)

 

Eigens zum Festival entstandene Publikationen

Horst Dieter Bürkle: „Unheil – Exemplarische Berichte über die Entarteten und Verfemten aus den Reihen der Darmstädter Sezession.“ Justus von Liebig Verlag, Darmstadt, 2019. Buchpräsentation am Samstag, 29. Juni, um 18 Uhr im Designhaus.

Gerd Ohlhauser und Christoph Rau stellen ein Foto-Flipbook zur Kunst im öffentlichen Raum zusammen. Titel: „Sezessionsmuseum Darmstadt“; Release zur Festival-Eröffnung am Samstag, 08. Juni, als 18. Band der „Edition Darmstadt“.