Foto: Hessisches Landesmuseum, Wolfgang Fuhrmannek

Das älteste Exponat im Hessischen Landesmuseum Darmstadt (HLMD) ist mehr als vier Milliarden Jahre alt. Das jüngste ganze neun Lenze. Dazwischen liegen viele, viele Jahrtausende – und diese gesamte Zeitspanne deckt das Universalmuseum in unserer Stadtmitte ab, mal stärker in der umfangreichen paläontologischen Abteilung, mal in der Kunstgeschichte. Grund genug, sein 200-jähriges Bestehen zu feiern, auch wenn zwei Hektoden im Vergleich nur wie ein Wimpernschlag wirken. Ein ganz schön langer Wimperschlag, den wir uns einmal genauer ansehen wollen. Denn die Geschichte unseres Landesmuseums ist bewegt.

Als Geburtsstunde des HLMD gilt die Übergabe der fürstlichen Kunstsammlung von Großherzog Ludewig I. von Hessen-Darmstadt an den Staat im Jahre 1820. Mit diesem Zug gab er die bis dato elitäre Sammlung in die Hand der Öffentlichkeit, und das – ganz im Sinne der Aufklärung – mit dem hehren Ziel des „Nutzen und der Belehrung“ seiner Bevölkerung. Hört, hört! Aber tatsächlich: Welches Heinerkind erinnert sich nicht an die vielen Besuche vor den Dioramen, in denen die verschiedenen Tierwelten dieser Erde so anschaulich dargestellt werden? Wer wusste nicht beim Zirkusbesuch damit zu protzen, dass er zwar vielleicht noch nicht auf einem Elefanten geritten, aber doch einem Mammut zu Füßen gestanden hat?

Die Sammlung des feinen Herrn bestand nämlich nicht nur aus Malereien und Skulpturen, sondern vor allem auch aus diversen zoologischen Präparaten und paläontologischen Fundstücken aus Vor- und Frühzeit. Auch physikalische und technische Instrumente und Apparate hatte Ludewig aus Interesse und Neugier an der Welt und ihrer Geschichte angesammelt. So ist das Landesmuseum in Darmstadt gleichzeitig Sammelsurium der Zeitgeschichte von Vor- und Frühzeit bis in die vergangenen Jahrhunderte sowie ein künstlerisches Kaleidoskop, welches in nahezu sämtliche Ecken der Kunstgeschichte hineinleuchtet. Und mit der frühen Stiftung Ludewigs I. an das Volk gilt das Museum außerdem als „eines der ersten öffentlich zugänglichen Museen in Deutschland und Europa“, wie Museumsdirektor Dr. Martin Faass im Interview betont.

Die Wurzeln des Universalmuseums reichen weit zurück: Die Grundlage für die Sammlungen der Geologie, Paläontologie und Mineralogie etwa bildete schon die Kollektion von Naturalien und physikalischen Instrumenten der Landgräfin Karoline, Ludewigs Mutter, die ihm diese schließlich vererbte. 1792 erweiterte dieser die Sammlung um den Nachlass von Johann Heinrich Merck, der sich unter anderem durch zahlreiche Säugetierfossilien auszeichnete. Ludewig kaufte auch diverse Glasgemälde, altdeutsche Altäre, niederländische Gemälde des 17. Jahrhunderts und Kupferstiche hinzu, er erwarb das gesamte druckgrafische Werk Albrecht Dürers sowie Rembrandts und bekam vom Kölner Baron von Hüpsch dessen bedeutende Kunst- und Naturaliensammlung vererbt. So wuchs die Privatsammlung des Großherzogs – und wurde vor dessen Ableben komplett der Öffentlichkeit gestiftet.

 

Hessisches Landesmuseum, Wolfgang Fuhrmannek

Zoologie, Geologie, Galerie und Kulturgeschichte unter einem Dach

Beheimatet waren die Exponate zunächst im Residenzschloss. Das anhaltende Wachstum der Sammlung machte es jedoch notwendig, größer zu denken. So veranlasste Großherzog Ernst Ludwig 1897 den Bau eines Museumsgebäudes durch den gebürtigen Darmstädter Architekten Alfred Messel. Die Herausforderung, vier Abteilungen – Zoologie, Geologie, Galerie und Kulturgeschichte – unter einem Dach zu vereinen, und zwar so, dass das Gebäude sich optisch neben dem Schloss einfügte, löste dieser mit Bravour und wurde für das Gebäude als Gesamtkunstwerk in der Fachwelt und den Medien gefeiert. 1906 konnte der Bau fertiggestellt werden.

So fanden die vielen Exponate ihre dauerhafte Bleibe im von Alfred Messel gebauten Museumsgebäude am Friedensplatz – und bekamen mehr und mehr Mitbewohner, denn als durch seine Universalität beinahe einzigartiges Museum in Deutschland und Europa erhielt das HLMD über die folgenden Jahrzehnte zahlreiche Schenkungen und erwarb ebenso viele Sammlungsstücke hinzu. So wie etwa 1852 das Mastodon, das berühmt-berüchtigte Mammut-Skelett, welches sich gerade auf einem Ausflug ins Smithsonian American Art Museum in Washington D.C. befindet.

Vom Residenzschloss in den Messelbau

Wie für ganz Darmstadt war das Jahr 1944 auch für das Landesmuseum ein besonders dunkles. Nachdem vor allem die Graphische Sammlung und der deutsche Bestand expressionistischer Gemälde stark unter dem Einfluss der Nationalsozialisten gelitten hatten, wurde das Museumsgebäude 1944 teilweise zerstört. Glücklicherweise waren die wichtigsten Sammlungsteile rechtzeitig ausgelagert worden; und durch einen schnellen Wiederaufbau bis 1955 konnte das Haus seinen Stellenwert in der Museumslandschaft halten. Vor allem die umfangreiche Jugendstilabteilung, die Fossilien aus der nahe gelegenen Grube Messel sowie der weltberühmte Block Beuys ließen das Museum weiterhin auf internationalem Parkett mitspielen.

Bereits 1980 wurde angebaut: Im Erweiterungsbau von Reinhold Kargel befindet sich heute die Gemäldegalerie vom Mittelalter bis 1945. 2007 schloss das Museum dann vorübergehend für die Öffentlichkeit. Sieben Jahre lang wurde das HLMD aufwendig saniert und erst 2014 wieder eröffnet. Aktualisierte Museumstechnik sowie erneuerte und erweiterte Präsentationsflächen sind das Resultat der Sanierung, seitdem bietet das Haus ein abwechslungsreiches Ausstellungsprogramm. 2019 kam der multimediale Videoraum hinzu, der ein Jahr lang unter dem Motto „Ozeanische Gefühle“ mit wechselnder Videokunst bespielt wurde – zuletzt etwa mit dem Virtual-Reality-Erlebnis von Simon Speiser. Das Landesmuseum erfindet sich neu, ohne sich selbst zu verlieren.

Das Jubiläumsjahr bringt viel in Bewegung

Durch das Jubiläumsprogramm öffnet sich das Haus zwangsläufig auch räumlich, was Martin Faass sehr schätzt: „Wir geraten teilweise an unsere Grenzen und müssen uns unweigerlich auch die Frage stellen: Wie nutzen wir möglicherweise manche Räume zukünftig anders? Das bringt natürlich das ganze Haus in Bewegung. Es ist gut, auch mal nachzufragen: Wie stellen wir unser Nutzungskonzept neu auf?“

Bei allen Neuerungen gerät das Grundprinzip des Universalmuseums nicht in Vergessenheit. Das ist für den charismatischen Museumsdirektor, der gerade erst sein erstes Jahr im Landesmuseum beendet hat, aktueller denn je: „In einer Zeit, in der die zunehmende Vernetzung aller Lebensbereiche zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme und Entwicklungen lebensnotwendig geworden ist, sind die Sammlungen auch nach 200 Jahren – neben dem ästhetischen Genuss – definitiv von ,Nutzen‘ und im besten Sinne ,belehrend‘. Das bleibt für die Zukunft Anspruch und Verpflichtung gleichermaßen.“

So sollen auch die nächsten 200 Jahre spannend und universal werden – Faass freut sich sehr, dass es seinem Team gelungen ist, ein so vielfältiges Programm zu entwickeln, welches auch die Vielfalt seines Hauses widerspiegele: „Wir spannen da den Bogen von Beuys bis zum Mastodon, von Fotografie bis zur Malerei – da wird viel abgebildet, worum es hier im Haus geht.“

 

Foto: Peter Lindbergh

2020 im HLMD: Die ganze Welt in einem Haus

Und was ist das, worum es heute im HLMD geht? „Wir sind im Grunde eine ganze Welt in einem Haus. Von den Objekten her haben wir die Möglichkeit, uns mit allem auseinanderzusetzen. Das empfinde ich als besondere Chance und tolle Gelegenheit: Mit verschiedensten Exponaten, egal wie alt, Bezüge zu aktuellen Diskussionen herzustellen.“

Das gilt sicher auch für einen der Höhepunkte des Geburtstagsprogrammes 2020: die Ausstellung „Kraftwerk Block Beuys“, die den Zusammenhang ausgewählter Werke und Beuys‘ Aktionen beleuchtet und gleichzeitig das Beuys-Jubiläumsjahr 2020/21 mit umfangreichem Rahmenprogramm einleitet.

Ebenso ein Highlight: die „Carte Blanche für Tomás Saraceno“, der sich in diesem Jahr als Erster aus einer Reihe zeitgenössischer Künstler*innen mit dem Block Beuys auseinandersetzt, ihn neu kontextualisiert und dabei die Schnittstelle zwischen Kunst, Natur und Gesellschaft auslotet. Oder die „Rembrandt Competition“, die anhand der Rembrandtbestände aus der Graphischen Sammlung einen Eindruck von der umfangreichen Museumsgeschichte vermittelt.

Der „American Heiner“, das bereits erwähnte Mammut, ist zwar momentan in seine amerikanische Herkunft verliehen, kehrt aber Ende des Jahres in seine Wahlheimat Darmstadt zurück und bekommt dort in Kooperation mit dem Smithsonian American Art Museum ganz besonders viel Aufmerksamkeit im Großen Saal.

Das 2015 in der Grube Messel gefundene Urpferdchen ist nicht weniger spektakulär und der perfekte Aufhänger, um neben 200 Jahren HLMD auch „25 Jahre UNESCO-Weltnaturerbe Grube Messel“ im Museum zu zelebrieren.

Fotografie-Freunde dürften sich über einen Programmpunkt des Jubiläumsjahres besonders freuen: Im Dezember 2020 beginnt die Peter-Lindbergh-Ausstellung „Untold Stories“, in der in Kooperation mit dem Kunstpalast Düsseldorf das Vermächtnis der kürzlich verstorbenen Fotografie-Legende präsentiert wird. Lässt auf mehr in der nächsten Dekade HLMD hoffen!

So oder so: Es bleibt spannend im Landesmuseum, das nicht zuletzt durch den Rückenwind des Jubiläumsjahres Türen und Köpfe öffnet: „So ein Jubiläum gibt ja auch immer die Möglichkeit, in so einem Haus neue Weichen zu stellen, das Profil zu schärfen und es an aktuelle Gegebenheiten anzupassen – denn das muss ja immer wieder passieren“, findet auch Museumsdirektor Faass. Die Digitalisierung etwa stellt für ihn keine Bedrohung für Museen dar, sofern diese sich mitentwickelten: „So können Museen zukünftig vielleicht zu echten Schatzhäusern des Analogen werden, während unser Alltag immer weiter digitalisiert wird.“ Aber das ist Zukunftsmusik. Konzentrieren wir uns zunächst auf das Hier und Jetzt: auf 200 Jahre HLMD!

 

Das Ausstellungsprogramm des HLMD im Jubiläumsjahr 2020

14.02. bis 24.05.: Kraftwerk Block Beuys im Ströher-Flügel und der Karl-Freund-Galerie

26.06. bis 27.09.: Carte Blanche für Tomás Saraceno im Großen Saal

09.07. bis 04.10.: Rembrandt Competition. Ein fürstlicher Wettstreit im Ströher-Flügel

09.07. bis 11.07.: Festakt (09.07.) + Großes Geburtstagsfest (11.07.) + Open-Doors-Wochenende bei freiem Eintritt

Im Sommer 2020: 25 Jahre UNESCO-Weltnaturerbe Grube Messel

06.11. bis 07.02.2021: American Heiner. Ein Mammut macht Geschichte im Großen Saal

04.12. bis 07.03.2021: Peter Lindbergh: Untold Stories im Ströher-Flügel und der Karl-Freund-Galerie

www.hlmd.de