Foto: Arno Schmidt Stiftung

Großes Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Miete: 95 D-Mark. Ein Preis, der heutigen Wohnungssuchenden in Darmstadt Freudentränen entlocken sollte. Für den Schriftsteller Arno Schmidt hingegen, der seinen Weg im Jahr 1955 in unsere Heinerstadt fand, kamen die umgerechnet 48,57 Euro einem kaum zu stemmendem Betrag gleich. So erstaunlich der damalige Mietpreis, so weit entfernt ist uns auch das Leben der 50er-Jahre. Heute ist es nämlich beispielsweise ebenfalls nicht mehr vorstellbar, dass ein Autor wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften ernsthaft angeklagt wird.

Einer eben dieser Anklagen ist es geschuldet, dass Arno Schmidt in das protestantische Darmstadt floh. Denn: Seine 1955 veröffentlichte Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“ erschien damals zu provokativ – zu freizügig und atheistisch – für das katholische Kastel. Kurzerhand verhalf der Maler Eberhard Schlotter dem Ehepaar Schmidt zu ihrer Wohnung in der Inselstraße 42, mithilfe seiner Kontakte zur Darmstädter Wiederaufbau GmbH. Ein Glück für Darmstadt, denn obwohl der Schriftsteller nur drei Jahre blieb, hinterließ er eindrückliche Spuren und Werke, die uns heute dem damaligen Lebensgefühl der Nachkriegszeit lautmalerisch näherbringen.

Kann man nicht beschreiben, muss man lesen!

Arno Schmidt, 1914 in Hamburg geboren, zählt heute zu den bedeutendsten Autoren in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Seine Person ist kontrovers, manch einer bezeichnet ihn als Sonderling und seine Texte als unlesbar. Doch gerade diese, seine inhaltlichen Spitzen, seine politisch provokante und direkte Art und sein Kulturpessimismus verschaffen Schmidt bis heute eine verschworene Fan-Gemeinde und anhaltende Aktualität. Man liebt den Autor für den Inhalt, aber vor allem für die Form. Schmidt entwickelte für seine erzählenden Texte neue Prosaformen, die fragmentarisch abstrakt daherkommen und so natürliche Bewusstseinsvorgänge realistischer nachbilden wollen.

«Ich spreche alle Stunden über Darmstadt einen Fluch von 100 Buchstaben!»

Doch was hat Arno Schmidt Darmstadt denn nun hinterlassen? Viel Wertschätzung für sein Asyl jedenfalls nicht. Das Leben in der Großstadt störte ihn schlichtweg. Zu viel lärmender Verkehr und viel zu viele Menschen. Später schreibt er: „Jegliche Berührung mit Anderen setzt erfahrungsgemäß meine Leistung herab und stört mich auf Tage hinaus – mein letzter Versuch in dieser Beziehung, meine ‹drei Jahre Darmstadt›, haben mich endgültig darüber belehrt.“ Und doch entlockt der Autor seiner Schreibmaschine zwischen 1955 und 1958 allerlei Gutes: zum Beispiel den Roman „Die Gelehrtenrepublik“ und die „Feuilletonsammlung Dy Na Sore“. Wer mehr über die lebhaften Beobachtungen und Erfahrungen des Stadtlebens des Darmstadts der Fünfziger lesen möchte, sollte außerdem den Sammelband „Sommermeteor“ – vielleicht bei einem Laternchen – in die Hand nehmen.

«Absolute Stille garantiert. Poststelle beim Gastwirt, ein weiteres Telefon beim Kaufmann, keine Kirche.»

1958 entflieht Schmidt dem Großstadtgetümmel und zieht mit seiner Frau Alice, die eine große Hilfe für ihren Gatten war und leider viel zu selten Beachtung findet und deshalb hier noch einmal hervorgehoben werden soll, nach Bargfeld in die Lüneburger Heide. Dieser Rückzugsort bleibt das letzte und erfüllendste Zuhause Arno Schmidts. Er stirbt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirnschlags im Krankenhaus Celle.

Keine Frage, Arno Schmidt zu lesen ist eine Herausforderung. Lässt man sich jedoch auf die eigenwillige Form und bedeutungsgeladene Interpunktion ein, eröffnet sich ein besonderes Erlebnis, was den Lesenden unmittelbar in die Szenen hineinzieht – pures Kopfkino!

Unsere Leseempfehlung: die bezaubernde Geschichte „Tina oder über die Unsterblichkeit“, in der Schmidt uns via Litfaßsäule in die Unterwelt Darmstadts mitnimmt. Außerdem ist sein berühmtes Hauptwerk „Zettel’s Traum“ – ein Buch im DIN-A3-Format, ganze 7,639 Kilogramm schwer – für jeden Lit-Kult-Liebhaber ein Muss.

«Ja, Mann, haben Sie denn immer noch nicht gemerkt, dass sie im Elysium sind ? !»

Um einen verqueren Menschen wie Arno Schmidt, sein Leben und Werk zu umschreiben, reicht ein Artikel nicht. Glücklicherweise besteht aber ab 11. Oktober die Möglichkeit, ganz tief in die Schmidt’sche Gedankenwelt einzusteigen oder sich ganz sanft mit mehr Hintergrundinformationen berieseln zu lassen. Studierende des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Darmstadt (h_da) sowie der Architektur und Germanistik der TU Darmstadt arbeiten gemeinsam seit über einem Jahr an einem Ausstellungsprojekt, das sich auf den Spuren Arno Schmidts in seinen drei Darmstädter Jahren bewegt. Neben der kostenfreien Hauptausstellung auf dem Campus Stadtmitte in der – ziemlich gelben – „Halle 2“ finden auch Lesungen, Events und Workshops im Schauraum beim Hochhaus der h_da statt. Die Ausstellung läuft bis 18. Januar 2020. Übrigens: Falls Ihr in nächster Zeit irgendwo in Darmstadt eine alte Dame mit Fernglas und Lockenwicklern seht: Es könnte Frau Lehmann sein.

Foto: Arno Schmidt Stiftung

 

Seltsame Tage – Arno Schmidt und Darmstadt 1955-1958

11. Oktober 2019 bis 18. Januar 2020

Hauptausstellung: Halle 2 (TU Darmstadt, Alexanderstraße 4)

Lesungen, Events und Workshops: Schauraum der h_da (Schauraum Hochschule Darmstadt, Schöfferstraße 3)

www.seltsametage.de

Bereits 2014 haben sich Studierende des FB Gestaltung mit Arno Schmidt beschäftigt. Infos über die daraus resultierende Litfaßsäulenkunst findet Ihr hier:

www.inselstrasse42.de