Das Team für psychologische Beratung | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

„Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas.“ Diesen Satz haben wir mittlerweile wohl in jedem erdenklichen Zusammenhang schon mehr als einmal gehört. Er trifft es aber einfach auf den Punkt – und gilt auch für die psychische Gesundheit: Laut der bundesweiten NAKO-Gesundheitsstudie wuchs der Anteil derjenigen mit „moderat bis schwer ausgeprägten depressiven Symptomen“ während der Pandemie von 6,4 auf 8,8 Prozent an. Doch auch Menschen ohne depressives Krankheitsbild empfinden verstärkt Symptome von Angst und Stress sowie Einschränkungen im psychischen Wohlbefinden. So sind auch die Patient:innen-Anfragen in psychotherapeutischen Praxen laut einer Blitzumfrage der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung Anfang des Jahres um durchschnittlich 40 Prozent angestiegen. Ein Drittel der Anfragenden muss nach Schätzungen des Verbandes länger als ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten. Der Leidensdruck wartet nicht.

Umso erfreulicher ist es, dass sich neben den klassischen psychotherapeutischen und psychiatrischen Angeboten echte therapeutische Alternativen entwickelt haben. Eine der prominentesten ist der systemische Ansatz mit den Praxisfeldern systemische Beratung, Coaching und Therapie. Nachdem sich die Psychotherapie bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch streng auf das Individuum konzentriert hatte, weitete sich in den 60er- und 70er-Jahren der Blick auf die Bezugspersonen der Patient:innen und die Systeme, in denen diese agieren, aus. Bis heute hat sich daraus eine eigene Disziplin entwickelt.

„Wir Menschen leben in vielen verschiedenen Systemen gleichzeitig“, erklärt Lyris Lawaty, systemische Beraterin aus Darmstadt. „Da sind die Familie, die Partnerschaft, Freundschaften, der Beruf und die Gesellschaft. Sie alle wirken miteinander – und sobald sich eines dieser Systeme oder ein Bestandteil eines Systems verändert, verändert sich auch alles um ihn herum.“ Gerade in der Pandemie verschieben sich viele Systeme konstant – und es kann schwierig sein, mit diesen Verschiebungen umzugehen. „Das gilt aber eigentlich für jede Krise“, weiß Lawaty. „Bei jeder Veränderung, ob in einer partnerschaftlichen Beziehung oder im beruflichen Kontext, kann es deshalb hilfreich sein, sich Unterstützung zu holen.“

 

Susanne de Jesus Oliveira | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Systemisch beraten heißt: Systeme betrachten

Die 30-jährige Darmstädterin beendete 2020 die zweijährige Ausbildung zur systemischen Beraterin und schloss sich nun mit drei Kolleg:innen zum „Team für psychologische Beratung“ zusammen. Anna Elger, Laura Quattek und Florian Röser kommen aus der Psychologie, sind wie Lawaty bereits systemische Berater:innen und befinden sich gerade in der Weiterbildung zu systemischen Therapeut:innen. Seine Beratungen bietet das Team sowohl unter vier Augen als auch als Co-Beratung mit zwei Beratenden an. „Das kann die Beratung durch die verschiedenen Perspektiven und Standpunkte noch mal sehr bereichern“, findet Lawaty. Dabei nehmen die Berater:innen aber nie die Rolle eines Ratgebenden ein: „Wir geben keine Ratschläge, eher machen wir Vorschläge und schauen dann gemeinsam, wie sich die Klient:innen mit der Vorstellung davon fühlen.“ Alle vier halten es für eine große Stärke, sich in schwierigen Zeiten Hilfe zu suchen – das kann auch Hilfe zur Selbsthilfe sein. „Wir als systemische Berater:innen helfen den Menschen auch zu reflektieren: Welche Ressourcen habe ich denn selbst, um eine Krise zu überwinden?“

Dies betont auch Jonas Blitz. „Systemische Beratung ist für mich zunächst einmal neugieriges Zuhören. Durch empathisches Nachfragen helfe ich den Ratsuchenden, zu strukturieren, was sie bewegt, und ihr Anliegen zu definieren. Sie sind dabei immer die Expert:innen für ihr eigenes Leben und tragen die Lösungen schon in sich – ich helfe ihnen nur dabei, sie zu finden.“ Wertschätzung und Anerkennung des Mutes derer, die sich trauen, Veränderungen anzugehen, ist für den 37-jährigen dabei elementar. Selbstverständlich sei deshalb auch, dass er sich niemals über seine Klient:innen stelle oder deren Situation werte: „Ich sehe meine Rolle viel mehr darin, Impulse zu geben, gedankliche Räume zu öffnen, sie zu betreten und bei meinem Gegenüber neue Gedanken anzustoßen.“

So sei systemische Beratung nicht nur in akuten Krisen und unter hohem Leidensdruck sinnvoll, sondern könne besonders auch denen helfen, die gerade das Gefühl hätten, in einer Situation festzustecken und weder vor noch zurück zu können – oder schlicht Stillstand empfinden. „Der Schlüssel zum Erfolg ist für mich dabei gegenseitiges Vertrauen und ein gutes Gefühl miteinander“, erzählt Blitz, der sich gerade im zweiten Jahr seiner Ausbildung befindet. Deshalb ist ein unverbindliches, kostenloses Vorgespräch für ihn ebenso wie für Lawaty und ihre Kolleg:innen selbstverständlich: „Es ist wichtig, dass sich beide Parteien miteinander wohlfühlen und eine Atmosphäre entsteht, in der die Ratsuchenden gerne berichten. Dann kann man eigentlich jedes Thema respektvoll besprechen.“

 

Jonas Blitz | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Coronakonforme Beratungen

Für Blitz eignen sich (nicht nur in Zeiten von Corona) gemeinsame Spaziergänge besonders gut für diese Gespräche. „Meine Erfahrungen als Sporttherapeut an einer Klinik für Menschen mit Suchterkrankung zeigen mir: Bewegung hilft oft, ins Reden zu kommen. Das gilt für Menschen jeden Alters und in jeder Situation.“ Nicht nur deshalb bietet er seine Beratung derzeit ebenso gerne an der frischen Luft wie auch per Videochat an – und bei Menschen mit eingeschränkter Mobilität natürlich auch auf einer ruhig gelegenen Parkbank. Während Blitz bisher vor allem Einzelberatungen durchführt, stehen Lawaty & Co. auch für Paare, Familien und Teams online und im Freien bereit.

Während es den meisten Klient:innen um Themen aus ihrem Privatleben geht, widmet sich systemisches Coaching häufig Menschen in ihrem beruflichen Kontext. Mit starkem Augenmerk darauf gründete Susanne de Jesus Oliveira im vergangenen Jahr gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Renner „Stilbruch – Werkstatt für nachhaltiges Coaching und Training“ in Arheilgen. Beide kommen aus der freien Wirtschaft und veranstalten neben Einzelcoachings auch Team-Workshops. „Wir entwickeln nachhaltige und realistische Strategien für das Zusammenspiel aus Privatleben und Arbeit“, erklärt de Jesus Oliveira. Dabei haben sie auch das Thema Nachhaltigkeit im Hinterkopf: Zur Visualisierung, etwa in ihren Workshops, wird häufig mit andernorts aussortierten Materialien gearbeitet; die gesamte Einrichtung ihrer Praxisräume ist secondhand – und lädt zum Wohlfühlen ein, was Post-Corona auch wieder ihren Auszubildenden zugutekommen soll. De Jesus Oliveira und Renner bilden nämlich auch zum systemischen Coach aus; derzeit findet die Ausbildung allerdings zu großen Teilen digital statt.

Dies ist auch beim anerkannten Wieslocher Institut für Systemische Lösungen, der Ausbildungsstätte von Jonas Blitz, so. „Ich habe dadurch erst gelernt, wie gut systemische Beratung auch online funktionieren kann“, berichtet er voller Überzeugung. Auch bei Viisa, dem Weiterbildungsverband, von dem alle Mitglieder des Teams für psychologische Beratung ausgebildet wurden, wird derzeit hauptsächlich online gelehrt. Beide Institutionen sind Teil des Fachverbandes Systemische Gesellschaft, welcher freiwillig verbindliche Aubildungsstandards ausgearbeitet hat. Da es sich beim systemischen Berater, Coach und Therapeuten um keinen geschützten Berufsbegriff handelt, kann das Zertifikat der Systemischen Gesellschaft (SG) bei der Suche nach der:m passenden Berater:in als Orientierungshilfe dienen. Eine weitere solche Zertifizierung erteilt auch die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).

Grenzen der systemischen Beratung

Bei allen Stärken des systemischen Ansatzes gibt es auch klare Grenzen. So betont Jonas Blitz: „Systemische Beratung kann und will keine Psychotherapie ersetzen.“ Wer unter einer diagnostizierten psychischen Erkrankung leidet, den Verdacht darauf hegt oder den Lebenswillen verloren hat, sollte den Weg zu einem:r Psychotherapeute:in aufsuchen – und wird im Zweifelsfall auch von Blitz und seinen Kolleg:innen darauf verwiesen werden. Ergänzend zu einer Psychotherapie oder als selbstwirksame Unterstützung nach deren Abschluss kann die systemische Unterstützung dann wieder greifen. Lyris Lawaty weiß außerdem: „In der jetzigen Situation, wo psychische Erkrankungen sich mehren oder stärker werden und die Therapieplätze knapp sind, kann Beratung schon mal helfen, um die Zeit bis zur Therapie zu überbrücken.“

 

Mut gefasst? Mehr Infos gibt es hier:

Jonas Blitz, systemischer Berater: jonasblitz.de

Stilbruch – Werkstatt für nachhaltiges Coaching und Training: stilbruch-coaching.de

Team für psychologische Beratung: team-psychologische-beratung.de

Du brauchst akut Hilfe? Das bundesweite ärztliche (auch psychiatrische) Bereitschaftstelefon erreichst Du telefonisch unter 116 117. Anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar ist auch die Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 oder 111 0 222.