Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Im Oktober 2003 rief ein unerwarteter Fund in Darmstadt auf besonders berührende Weise die Reichspogromnacht ins Gedächtnis: Ein Schutthaufen aus verbrannten Eisenträgern und verkohlten Holzbalken verströmte noch den Brandgeruch aus jener Nacht, „ein sehr starker Geruch der Verbrennung, der immer noch, auch nach 65 Jahren, nachwirkte. Es ist wie eine direkte körperliche und sinnliche Erfahrung dessen, was Zerstörung bedeutet“, wird berichtet. Baggerarbeiten auf der Baustelle des Neubaus des Klinikums der Stadt Darmstadt in der Bleichstraße brachten Überreste der Liberalen Synagoge Friedrichstraße zutage, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Darmstädter Stadtbild gehörte. Noch in diesem Jahr wird eine in den Neubau integrierte Gedenkstätte eröffnet, die Darmstadt Marketing GmbH hat bereits angekündigt, in naher Zukunft erste öffentliche Führungen anzubieten.

Das schon jetzt sichtbare Resultat (nach fünfeinhalb Bauzeit) ist beeindruckend: Etwa ein Viertel des ehemaligen Grundrisses der Kellerebene der Synagoge wurde freigelegt und behutsam in Szene gesetzt. Erhalten sind unter anderem die Fundamente des Thora-Schreins, des Allerheiligsten einer jüdischen Synagoge. Mit den Resten des prächtigen Gotteshauses wurde ein weitgehend verdrängtes und vergessenes Stück Darmstädter Stadtgeschichte zurück ans Tageslicht geholt.
Die ehemalige Synagoge wurde in den Jahren 1873 bis 1876 im historisierenden Stil des Neoromanismus’ erbaut und war Ausdruck einer reichhaltigen jüdischen Tradition. In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde sie von den Nationalsozialisten niedergebrannt. Die Zerstörung fand unter Teilnahme staatlicher Organisationen und durch aktive Beteiligung der Darmstädter Bevölkerung statt. Die „Arisierung“ des Einzelhandels vollzog sich in Darmstadt – schon vor 1933 eine „braune Hochburg“ – besonders effizient.

Die Gedenkstätte Liberale Synagoge

Als man im Oktober 2003 nun Überreste der Synagoge fand, waren die Planungen des Hamburger Architekturbüros Prof. Friedrich + Partner für den Krankenhausneubau bereits abgeschlossen, Firmen beauftragt und mit dem Bau war bereits begonnen worden. Es war eine engagierte Entscheidung des damaligen Oberbürgermeisters Peter Benz, einen sofortigen Baustopp zu verhängen, um darüber nachzudenken, wie man die Überreste der Synagoge retten und für die Öffentlichkeit sichtbar machen kann.

Überlegungen, die Mauerreste abzutragen und an anderer Stelle neu aufzubauen, gab es. Dies war für die Denkmalschutzbehörde jedoch undenkbar, da die Funde dadurch ihre authentische geschichtliche Aussage verloren hätten. Auch seitens der Politik war die damit verbundene nochmalige Zerstörung der Synagoge keine Lösung. Gemäß jüdischer Auffassung sind die Überreste einer Synagoge bis zum letzten Stein heilig, da sie nicht durch Herausnahme der Thora-Rollen und des „ewigen Lichts“ von Juden selbst entweiht wurde, sondern von den Nazis mit Gewalt zerstört wurde.

Es wurde folgerichtig entschieden, den gesamten Fund an Ort und Stelle zu belassen und in das Konzept des Neubaus des städtischen Krankenhauses zu integrieren. Hierzu musste das bestehende, sehr komplexe Klinikkonzept völlig umgearbeitet werden, um einen Raum zu schaffen, in dem die Ruine ihren Platz findet und zu einem Erinnerungsort werden kann. Enorme Mehrkosten von 1,8 Millionen Euro waren die Folge, die Bauzeit verlängerte sich erheblich.

Die architektonische Gestaltung der 15 mal 15 Meter großen Gedenkstätte ist zurücknehmend und will sich selbst nicht in den Vordergrund stellen, eine zu starke Ästhetisierung der Funde wurde vermieden. Eine sachliche, stützenfreie Sichtbetonhülle schützt nun die Überreste der Synagoge. Von der Decke abgehängte Stege und Brücken führen den Besucher durch den Raum und lassen die Funde aus der Vogelperspektive erlebbar machen. Ein künstlerisch-didaktisches Konzept hilft dem Besucher, die Funde zu verstehen. Die statischen Anstrengungen, die hierfür unternommen werden mussten, sind freilich nicht sichtbar, obwohl ein fünfgeschossiger Klinikneubau über dem stützenfreien Raum „schwebt“, dessen Kräfte auf komplizierte Weise in die Fundamente abgetragen werden müssen.

Das Besondere an der Darmstädter Gedenkstätte ist, dass diese nicht auf abstrakte, ästhetisierte Weise ein Ort des Erinnerns ist, wie zum Beispiel die prominenten Mahnmale in Berlin. Dort soll die expressive und theatralische Entwurfsstimmung der Architektur Erinnerungsarbeit leisten. Ob man hier von den spektakulären Räumen ergriffen ist oder von der emotionalen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gräueltaten und damit verbunden der deutschen Vergangenheit, muss jeder selbst entscheiden, denn es bleibt offen.

In Darmstadt ist dies anders. Die Architektur entfaltet auf besondere Weise das Gedenken: „Am authentischen Ort des Geschehenen wird auf die verschwundene Vergangenheit, auf das, was nicht mehr sichtbar ist, verwiesen. Ein Ort hält Erinnerungen aber nur dann fest, wenn die Menschen diesen Ort markieren und seine Spuren sichern. Der Erinnerungsort Liberale Synagoge zeigt das Ergebnis dieser Spurensuche mit Steinen, Bildern und Worten“, erklären die Installationskünstler Nicholas Morris und Ritula Fränkel. Sie entwickelten das künstlerisch-didaktische Konzept der Erinnerungsstätte, in dessen Mittelpunkt der „Parcours der Erinnerung“ mit zehn Stationen steht. Licht ist ein wesentliches gestalterisches Element: Das über Jahrzehnte im Dunkeln Verborgene soll sichtbar gemacht, ans Licht gebracht werden. Installationen mit historischen Texten, Bildern und Fundstücken, eine audio-visuelle Hörstation mit Zeitzeugeninterviews und ein Info-Terminal rekonstruieren Geschichte im Fragment.

Dass dieser Ort kein abstrakter Raum ist, sondern an authentischer Stelle im Alltagsbetrieb des Krankenhauses untergebracht ist und somit täglich Besucher, Patienten und Mitarbeiter praktisch „über die Steine der ehemaligen Synagoge stolpern“, macht diese Gedenkstätte zu einer besonderen. So wird sie möglicherweise auch Bürger in ihren Bann ziehen, die ansonsten aus eigenem Antrieb heraus kein Mahnmal besuchen würden.

Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Literatur zur Architektur:

Zur Liberalen Synagoge ist jüngst ein Buch im Justus von Liebig Verlag erschienen: Martin Frenzel (Herausgeber) „Eine Zierde unserer Stadt“ – Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Liberalen Synagoge in Darmstadt, 232 Seiten mit vielen Abbildungen, 24,80 Euro