Foto: Ordensgemeinschaft Kanaan
Foto: Ordensgemeinschaft Kanaan

Inmitten von Darmstadt, an einem Ort, an dem wir schon tausende Male vorbeigefahren sind ohne zu wissen, was sich hinter diesen Mauern verbirgt, machen wir Halt und betreten uns fremdes Neuland: das Land der Ordensgemeinschaft Kanaan, gelegen am südlichen Stadtrand Darmstadts, in Eberstadt.

Täglich um 15 Uhr läuten hier die Glocken der „Kapelle von der Leiden Jesu“, genau zur Uhrzeit seiner Todesstunde, glaubt man hier. Das Drei-Uhr-Gebet ist öffentlich, und überhaupt entpuppt sich das Gelände des Klosters Kanaan als ein offener und meditativer Ort der Ruhe, der Buße und der Religiosität. Die Geschichte des Ordens, bestehend aus zirka 170 Ordensschwestern, ist eng mit Darmstadts Geschichte verwoben: Die Darmstädter Brandnacht vom 11. September 1944, die in Darmstadt 12.000 Tote hinterließ, stärkte den Wunsch zweier Frauen und den überlebenden Mädchen ihres damals geführten Darmstädter Bibelkreises, sich im Auftrag Gottes zu vereinigen.

Versöhnung zwischen Christen und Juden

Gegründet wurde die Marienschwesternschaft 1947 unter Mutter Basilea (Dr. Klara Schlink, übrigens die Tante des berühmten deutschen Schriftstellers Bernhard Schlink) und Mutter Martyria Madauss. Schon früh engagierten sich die Schwestern in Ökumene und christlich-jüdischem Dialog. In Bezug auf die Juden spielte von Anfang an der Sühnegedanke eine Rolle: Stellvertretend für das deutsche Volk wollten die Schwestern ein Zeichen der Versöhnung zwischen Christen und Juden setzen. Daraus entwickelte sich auch ein starkes Eintreten für Israel.

Die Evangelische Marienschwesternschaft und ihr kleines Land Kanaan

Ein kleines Israel findet sich auch auf dem Gelände Kanaans wieder. Bei einem Spaziergang über das riesige, neun Hektar große Naturgelände entdecken wir eine kleine Quelle, aus der der Jordan entspringen soll, den See Genezareth, den Berg Tabor und den Hügel Golgatha, auf dem die Kreuzigung Jesu stattgefunden haben soll. Um sich dem Gebet intensiv hingeben und den Leidensweg Jesu nachempfinden zu können, wurden diese biblischen Stationen hier nachempfunden. Zur Ehre und Verherrlichung des lebendigen Gottes führt eine „Triumphstraße“ durch Kanaan. Zwölf Danksteine erzählen chronikalisch von den Wundern Gottes, die dazu führten, dass die Marienschwestern das Land Kanaan errichten und bauen konnten.

Ursprünglich waren hier Offizierssiedlungen und eine Umgehungsstraße geplant. Auf dem Gelände befinden sich neben der Mutterhauskapelle auch die Jesu-Ruf-Kapelle, ein Obst- und Gemüseanbau für den Eigenbedarf und ein Verlag für die Verbreitung eigener Schriften in über 60 Sprachen. Die Schwestern leben nicht abgeschottet, aber autark, sie leben unabhängig und dankbar von durch Gott gesandte Gaben, wie sie sagen. Oft werden Geschenke und Speisen für sie an der Pforte abgegeben.

Errichtet aus Trümmern der Brandnacht

In Darmstadt leben 130 Marienschwestern aus 19 Nationen im Alter von 28 bis über 90, weitere 40 sind in der ganzen Welt verteilt. Auch weniger als ein Dutzend Kanaan-Franziskusbrüder gehören zum Orden der Marienschwesternschaft. Die kleine, weiße Kapelle mit den kunstvoll-bunten Glasfenstern, in der sie sich täglich zum Drei-Uhr-Gebet treffen, haben die Schwestern unter Anleitung eines Poliers eigenhändig gebaut. Im Mai 1949 kam ihnen die innere Gewissheit, dass sie ihrem Herrn Jesus eine Kapelle bauen sollen, um ihn dort anzubeten. Sie sollte ein deutliches Zeichen setzen, dass die Nazi-Zeit, in der Gott keinen wirklichen Platz hatte, von nun an vorbei war. Als Material dienten ihnen die Trümmersteine des Zweiten Weltkrieges, die Trümmer der Darmstädter Brandnacht. Aus ihnen haben sie das Neuland errichtet, das nur wenige Darmstädter je betreten haben