Foto: Nouki

Es gibt Fußballer, deren Weggang man als Fan bloß zur Kenntnis nimmt. Und es gibt Fußballer, deren Weggang etwas in einem auslöst. Zu Letzteren zählt Marvin Mehlem. Anfang August gaben die Lilien bekannt, dass der Mittelfeldspieler den Verein gen England verlässt. Das absehbare und irgendwie doch abrupte Ende seiner siebenjährigen Karriere beim SVD.

Wenn die Lilien bei der Verabschiedung eines Spielers das große Besteck rausholen, dann will das etwas heißen. Der Weggang von Marvin Mehlem wurde nicht in dürren Worten auf der Website verkündet. Er wurde auf allen Kanälen des Sportvereins mit zahlreichen Bildern und einem Lebewohl-Video umrahmt. Dabei sah man einen zunächst bubihaften „Marv“ in einem Lilien-Trikot des Ausrüsters Jako, der sich zu einem Profi, mit dem fast schon obligatorisch tätowierten Arm entwickelt hatte. Highlights zeigten tolle Assists über den halben Platz, seine Treffer in der Bundesliga und Ausschnitte aus seinem wohl denkwürdigsten Spiel, als er 2019 quasi im Alleingang ein 0:2 beim HSV in ein 3:2 drehte. Dass die 98er für Mehlem selbst nicht nur eine Episode in seiner Fußballkarriere waren, zeigte sich in der Halbzeitpause des jüngsten Heimspiels gegen Fortuna Düsseldorf. Der gebürtige Karlsruher verabschiedete sich auf dem Rasen persönlich von den Fans, die ihn wiederum mit Sprechchören feierten. Ein Abschied, wie er sein sollte: überaus wertschätzend, nicht stillschweigend durch die Hintertür.

Erfolglose Charmeoffensive

Die Art der Verabschiedung zeigt in erster Linie eins: Hier geht ein Spieler, der Spuren hinterlassen hat. Ein Spieler, den die Lilien nur ungern ziehen lassen. Denn Mehlem kam als Talent und er geht als gestandener Profi. Als ein Kicker, der sich über die Jahre zum Leistungsträger und Schlüsselspieler entwickelt hatte. Chefcoach Torsten Lieberknecht hatte ihm im Saisonendspurt der Bundesliga die Kapitänsbinde des verletzten Fabian Holland übertragen. Er wollte ihm damit zeigen, dass er auf ihn als Fixpunkt bei den Lilien setzt. Dass er den nächsten Schritt machen und die Mannschaft führen soll. Es waren Fingerzeig und Charmeoffensive in einem. Leider ohne Erfolg. Denn, dass ein Spieler wie Mehlem Begehrlichkeiten wecken würde, das war klar. Er war einer der wenigen Lichtblicke in der so enttäuschend verlaufenen Bundesligasaison – und er hatte schon in der vorangegangenen Aufstiegssaison überzeugt.

Talent mit Potenzial

Das zeigt zugleich, dass die langjährige Nummer 6 vor allem unter Lieberknecht einen deutlichen Aufwärtstrend vollzogen hatte. Denn als er als 19-Jähriger unter Torsten Frings ans Bölle kam, da war er eine Wette auf die Zukunft. Ich befragte seinerzeit für meinen „Kickschuh“-Blog Jörn über Marvin Mehlem. Jörn arbeitete beim FC St. Pauli, stammt aber aus Karlsruhe und verfolgte den Klub aus seiner Heimat intensiv. Er sprach damals von einem „talentierten jungen Spieler mit viel Potenzial“, zu dessen Erwerb man den Lilien nur gratulieren könne. Jörn hob Mehlems Spielwitz, seine Passsicherheit und sein Spielverständnis hervor. Etwas, das dieser bei den Lilien tatsächlich unter Beweis stellte. Jörn äußerte auch, ihn würde es nicht wundern, wenn der Jungprofi gleich in seiner Premierensaison „plötzlich auf 30 Einsätze“ käme. Es wurden 21. Am Ende lief Mehlem in 191 Partien für den SVD auf. Es wären über 200 geworden, wenn er nicht in der vergangenen Spielzeit von zwei Wadenbeinbrüchen außer Gefecht gesetzt worden wäre.

Zum Ende seiner Karlsruher Zeit war Mehlem im Übrigen vom damaligen KSC-Sportchef Oliver Kreutzer öffentlichkeitswirksam angezählt worden. Was war passiert? Er hatte nach einem Diskobesuch eine Trainingseinheit verschlafen. Während seiner Zeit bei den Lilien schrieb Mehlem tatsächlich auch einmal negative Schlagzeilen abseits des Spielfelds. Im September 2020 war er an einem frühen Abend mit deutlich über zwei Promille am Steuer erwischt worden. Wahrlich kein Ruhmesblatt.

Lichtblick in der Bundesliga

Dahingegen lief es für ihn sportlich immer besser. Unter Lieberknecht agierte er weiterhin als kreativer Spieler, aber auch zunehmend als ungemein laufstarker und robuster Kicker. Ähnlich wie der ebenfalls aus Karlsruhe stammende Jerôme Gondorf brachte er eine gewisse Schlitzohrigkeit mit. Er wusste Gegner zu nerven und zeigte auch in der Bundesliga, dass er wenig Anpassungsprobleme hatte. Er schien den dortigen Fußball rasch zu verstehen, legte Tore auf und erzielte selbst welche. Dabei zeigte er eine Konsequenz, die ihm zuvor oft abgegangen war. Ich spottete gerne, dass Mehlem den Ball lieber ins Tor tragen oder passen mochte, als ihn dorthin zu schießen. In dieser Hinsicht war er eben kein Torjäger, sondern einer, der eher auflegte, als den Abschluss zu suchen. Damit korrespondierte, dass Mehlem kein Lautsprecher war. Er dirigierte sein Team nicht lautstark, er ließ lieber seine Pässe sprechen.

Best Buddies

Gut zupass kam ihm sicherlich, dass 2021 mit Phillip Tietz ein guter Buddy aus gemeinsamen Tagen bei der Juniorennationalmannschaft zum SVD gekommen war. Die beiden harmonierten so prächtig, dass die 98er sie gerne für ihre Social-Media-Kanäle vor die Kamera holten. Dabei überzeugten Tietz als lustiger Zeitgenosse und Mehlem als Charakter mit trockenem Humor. Schön die Episode, in der die beiden sich uneins waren, wer besser Englisch sprechen könne. Als sie auf keinen gemeinsamen Nenner kamen, forderte Tietz Mehlem auf, ein Szenario durchzuspielen. Er solle einen Busfahrer fragen, wie spät es sei und wann am Wochenende das Fußballspiel von Huddersfield stattfinden würde. Mehlem zog sich anschließend ganz ordentlich aus der Affäre. Zwei Jahre nach dieser Aufnahme, wird „Marv“ seine Sprachkünste nun in der Praxis beweisen dürfen. Er wird künftig in Kingston upon Hull an der Ostküste Englands leben. Dort läuft er für Zweitligist Hull City auf. In die Verlegenheit, einen Busfahrer nach dem Spiel gegen Huddersfield zu fragen, wird er nicht kommen. Huddersfield stieg im Frühjahr in die 3. Liga ab und spielt dort gegen Ex-Lilie Christoph Klarer, der kurz vor Mehlem zu Birmingham City gewechselt war. Aber das ist eine andere Geschichte.

Marv, have a good time in England. It’s been a blast with you at the Lilies!

 

Gut in die Saison reinkommen

Sa, 31.8., 13 Uhr: SV 07 Elversberg – SV Darmstadt 98

Sa, 14.9., 13 Uhr: SV Darmstadt 98 – Eintracht Braunschweig

Fr, 20.9., 18.30 Uhr: FC Schalke 04 – SV Darmstadt 98

Sa, 28.9., 13 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1.FC Magdeburg

sv98.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Zudem führt er seit einigen Jahren Interviews für den „Lilienkurier“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

kickschuh.blog