Vermutlich jeder von uns hat mindestens eine exzessive Leidenschaft. Bei vielen war oder ist es das Sammeln von etwas: zum Beispiel Platten, Büchern, Sticker, Bierdeckeln, whatever. Der Darmstädter Cem Demirci (33) sammelt Fußbälle. Aber nicht irgendwelche. Sondern solche mit einer relevanten Vita in der Fußball-Historie – am besten sogar mit einer entscheidenden oder gar finalen Bedeutung. Über 200 befinden sich in seinem Besitz. Wir trafen uns mit dem Fußball-Nerd und sprachen über einige besondere Exemplare.
In der hiesigen Kulturszene kennen ihn viele über das Label Five Finger Records oder die Party-Events von Kopfsache. Cem Demirci hat aber noch eine eher verborgene Leidenschaft: Fußbälle von Welt-/Europameisterschaften, Olympia, Confederations Cup, Champions League, DFB-Pokal, Bundesliga und mehr. Die meisten sind „Official Match Balls“ (OMB), also Kaufversionen der Original-Fußbälle aus Turnieren oder Liga-Saisons, die seit der WM 1970 (damals „Telstar“ von Adidas) immer wieder mit neuem Design, Material oder veränderten Charakteristika wie Flugeigenschaft oder Sprungverhalten auf den Markt kommen. Mehr als 40 seiner Bälle sind aber auch „match used“, also verifizierte (eigene Recherche) oder gar zertifizierte (offizieller Stempel, offizielles Zertifikat) Spielbälle aus bedeutenden Matches, an die man nur durch Glück, Recherche und vor allem Vitamin B rankommt. Wer Tipps hat … gerne an info@mecball.de mailen.
Als Bayern-München-Fan [mit „Ich bin aber auch großer Lilien-Fan!“ versucht er seine Haut zu retten] begann seine Sammel-Leidenschaft. „Ich wollte 2013 unbedingt einen der Bälle haben, die im damaligen Champions-League-Finale Bayern gegen Borussia Dortmund verwendet wurden. Ich wollte, dass berühmte Spieler den Ball wirklich am Fuß oder in der Hand hatten“, erzählt Demirci. Bis Ende der 1990er gab es immer nur einen (!) Spielball (außer er ging kaputt oder verschwand im Publikum oder über die Tribüne). Heute sind es dagegen meist 15 bis 20, die danach als „match used“ bezeichnet werden können. „Die offiziellen Kaufversionen sammle ich mittlerweile nicht mehr, da ich den größten Kick für mich mit den ,match used‘-Bällen erziele“, schwärmt der Hobby-Kicker, der beim SV Groß Bieberau auch eine „viel zu wenig beachtete“ [grinst] Vereinskarriere absolvierte.
Die „match used“-Bälle besitzen in Sammlerkreisen den größten Stellenwert, da es schwer ist, an sie ranzukommen. Meist gehen sie an Sponsoren und Museen, landen bei Gewinnaktionen – oder Spieler und Offizielle krallen sich einen. Da kommt Vitamin B ins Spiel: „Ich habe mittlerweile Kontakte zu Leuten von Fernsehsendern, die meist vor Ort sind und einen Ball abgreifen. Und durch Querverbindungen auch zu einigen bei FIFA und UEFA“, erklärt Demirci verschmitzt.
Einen offiziellen Markt für solche Bälle gibt es noch nicht. Die Sammlerszene, die aus Footgolfern, Freestylern, Museen, Ex-Fußballern und Fans der jeweiligen Mannschaften besteht, ist weltweit vernetzt. „Die Nachfrage und der Markt sind in den letzten Jahren sehr gewachsen – und dadurch natürlich auch die Preise der Bälle.“ Für ihn zähle allerdings vor allem der ideelle Wert. „Ich glaube, dass ich eine der größten und wohl auch vielseitigsten Privatsammlungen der Welt besitze. In der Sammlerszene werde ich auch öfter herangezogen, um Bälle zu verifizieren oder Fälschungen zu entlarven“, erzählt Demirci selbstbewusst, aber ohne Arroganz. Bei jeder einzelnen Ball-Anekdote ist seine Leidenschaft zu spüren.
Sein schönster Ball
„Ein Spielball aus dem Champions-League-Finale der Frauen im Jahr 2011: Olympique Lyon gewann 2:0 gegen 1. FFC Turbine Potsdam. Der Ball ist vom Design her einfach wunderschön. Und ja, ich habe einige Bälle aus dem Frauen-Fußball. Der ist für mich genauso relevant.“
Sein wohl wertvollster Ball
„Stand jetzt ein Spielball aus dem WM-Finale 2002 in Japan. Deutschland verlor damals 0:2 gegen Brasilien. Stand jetzt aber nur deshalb, weil ich gerade dran bin, einen Halbfinal-Ball von der WM 2014 in Brasilien zu ergattern, dem legendären 7:1 von Deutschland gegen Brasilien damals. Der hätte für mich noch größeren ideellen Wert.“
Sein ältester Ball
„Ich hatte mal einen von 1938. Den habe ich aber einem anderen Sammler gegeben. Derzeit daher ein Spielball von der WM 1974 mit den Autogrammen der deutschen Spieler. Es ist aber leider nicht bekannt, in welchem Spiel genau er zum Einsatz kam.“
Sein merkwürdigster Ball
„Ich habe auch viele Prototypen, also Probe-Bälle aus den Versuchslaboren der Firma Adidas. Die werden danach meistens vernichtet, manchmal fällt aber doch einer ,unter den Tisch‘. Hier zum Beispiel ein fluoreszierender, der bei Helligkeit langweilig, aber im Dunkeln sehr geil aussieht.“
Seine Champions-League-Finalbälle
„Ich habe derzeit elf ,match used‘-Champions-League-Finalbälle, zum Beispiel einen von 2019, als Liverpool gegen Tottenham gewann. Der gehörte eigentlich dem ehemaligen Manchester-United-Spieler Roy Keane, der ihn nach dem Spiel in der VIP-Lounge bei einer Verlosung gewann. Aber er ließ ihn liegen, jemand nahm ihn mit und über Umwege landete der Ball bei mir. Viele Bälle sind allerdings – ich gestehe – aus Endspielen mit Bayern München, zum Beispiel einen von 2012 gegen Chelsea. Bei den meisten gibt es wirklich eigenartige Storys, wie ich letztlich an die rankam. Manche landen zum Beispiel im Publikum und danach bei Ebay oder in Foren. Ich recherchiere dann anhand von Youtube-Handy-Videos, Eintrittskarten und so, ob die Story wirklich stimmig ist. Es sind nämlich auch viele dreiste Fälschungen und Fake-Storys im Umlauf.“
Fußbälle mit Geschichte in Darmstädter Schaufenstern
Einige der Fußbälle könnt Ihr während der Fußball-Europameisterschaft (vom 11. Juni bis 11. Juli 2021) in den Schaufenstern folgender Darmstädter Läden bestaunen: in der Galerie Christian Schindler und im Henschel.