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Foto: Jan Ehlers

Einst gab es in Darmstadt eine Rockband namens Everest, der Plattenbosse eine große Karriere versprachen. Dafür gingen die fünf Jungs 2004 nach Berlin. Wie so oft im Musik-Geschäft wurde nichts daraus – aber mindestens einer schaffte dort doch den Sprung auf die großen Bühnen des Landes: Christopher „Baku“ Kohl. Er ist Schlagzeuger bei der äußerst erfolgreichen Band Jennifer Rostock und startet mittlerweile auch mit seiner Zweitband Kotzreiz durch. Bei Letzterer nennt er sich Chris Kotze. Kurz vor einem Konzert in seiner alten Heimatstadt daher mal eine Bestandsaufnahme in Sachen Berlin, Jennifer Rostock (JR), Shitstorm, Everest und Heag.


Du lebst mittlerweile seit fast zehn Jahren in Berlin. Bist Du mittlerweile „echter Berliner“ oder fühlst Du Dich immer noch als zugezogener Heiner?

Ich hab mich irgendwie nie wirklich als Heiner gesehen und eben jetzt auch nicht als Berliner. Ich hab nie hessisch gebabbelt und die kesse Haupstadt-Schnauze is auch nich so mein Ding. Klar, wohn ich gerne in Berlin, geh da wählen und verbringe den Großteil meiner Zeit dort, aber so‘ nen verbitterter „Früher war alles besser“-Original-Berliner bin ich nicht. Ich beschwere mich noch nichmal über die Spießer-Schwaben-Invasion oder so was, das braucht wohl noch ein paar Jahre.

Der ganz große Hype um Berlin hat etwas nachgelassen. Wie hat sich für Dich die Stadt verändert in den letzten Jahren?

Ich wohn immer noch in derselben Bude, in die ich damals vor zirka neun Jahren gezogen bin. Die Stadt, grade „mein“ Bezirk Friedrichshain, hat sich schon sehr verändert. Obwohl sich die Stadt ja gerne, bestimmt auch zurecht, das Wort Kulturhauptstadt auf die Fahne schreibt, geht die Subkultur den großen Baukonzernen und Politikern wohl eher am Pobbes vorbei. Wohnprojekte, besetzte Häuser und Clubs werden geschlossen und geräumt. Büropaläste und Firmen mit schönem Blick auf die „Media“-Spree werden aus dem Boden gestampft. Die Yuppiesierung nimmt ihren Lauf.

Mit Deiner Band Kotzreiz kommst Du am 09.03. nach Darmstadt. Normale Tour-Station oder doch eher eine Art Heimspiel?

Klar, isses immer was Besonderes, wenn wa mal in Darmstadt sind. Hier bin ich aufgewachsen, hier war ich zum ersten Mal besoffen, hier wurde ich (a)sozialisiert.

Was verbindet Dich noch mit Darmstadt und wie bewertest Du – aus der Ferne – die Entwicklung der Stadt?

Momentan bin ich wieder öfters in Darmstadt, weil meine zuckersüße, grünhaarige, höchst intelligente, wunderhübsche zukünftige Ehefrau Victoria [die von „Frag Vicky“, Anm. d. Red.] hier wohnt. Meine lieben großartigen Eltern ebenfalls. Grüßchen an dieser Stelle. Von der Entwicklung der Stadt bekomm ich eigentlich eher weniger mit. Jedes Mal wenn ich hier bin, gibt’s ne neue Straßenbahnlinie, dazu noch 4653635 verschiedene Busse nach sonst wohin. Das Eledil, wo wir früher immer Tequila-Komasaufen gespielt haben, hat vor ein paar Jahren geschlossen, aber es gibt ’nen leckeren Falafel-Laden, das Mondo Deli. Die Oetinger Villa, wo ich vor hunderten von Jahren auf meinen ersten Konzerten war, gibt’s zum Glück auch noch. Ich hab mittlerweile schon echt viele Juzes, Clubs und „Locations“ gesehen, aber die Villa gehört immer noch zu meinen Lieblingsplätzen.

Du warst Schlagzeuger der damals regional sehr bekannten Darmstädter Band Everest, die aber 2004 gemeinsam entschied, nach Berlin zu ziehen, um auch bundesweit erfolgreich zu werden. Mit Everest klappte das letztlich nicht, aber dafür als Schlagzeuger von Jennifer Rostock. Reines Glück oder was lief da anders?

Wir hatten ’ne super Zeit mit Everest damals. Wir haben mit fast jeder damals relevanten Band zusammengespielt und waren sogar in England und Schottland unterwegs. Als wir dann alle zusammen nach Berlin gezogen sind, hat jeder eher so sein Ding gemacht und die Band is son bisschen auseinandergebröckelt. Jeder hat sich seine Inspirationsquellen und Einflüsse gesucht und wir kamen irgendwie nich mehr auf einen gemeinsamen Nenner. Trotzdem war es, glaube ich, für jeden von uns ’ne gute Entscheidung nach Berlin zu ziehen. Aus uns allen is ja irgendwie so halbwegs was geworden, haha.

Dein ehemaliger Bandkollege von Everest, Erik Laser, ist Manager von Jennifer Rostock und Geschäftsführer einer ziemlich erfolgreichen Agentur. Mit ihm stehst Du daher in ständigem Kontakt. Der ehemalige Sänger von Everest ist inzwischen als Hans Unstern auch durchaus erfolgreich – allerdings mit einem ganz anderen Sound. Hast Du zu ihm und den anderen Kollegen aus der Darmstädter Zeit noch Kontakt?

Erik sehe ich immer mal bei Business Meetings oder High Society-Events und wir trinken Champagner und ganz teuren Grappa aus goldenen Kelchen zusammen. [lacht] Mit Hadl, dem Everest-Keyboarder hatte ich einige Zeit noch dieses Technoschreipunk-Projekt „Bionic Ghost Kids“, wo ich gesungen habe. Aber da bin ich vor vier Jahren ausgestiegen. Christian [Hans Unstern] sehe ich vielleicht mal alle drei Jahre oder so. Der hat jetzt ’nen fantastischen Vollbart und macht Musik für Leute mit fantastischen Vollbärten. Kunst, quasi. Viele meiner damaligen Hessen-Homies sind über die Jahre dann auch nach Berlin gezogen. Man nennt diese Hessifizierung liebevoll „little Datterich“.

Jennifer Rostock zählt mittlerweile zu den bekanntesten Bands hierzulande und spielt große Tourneen. Deine andere Band Kotzreiz startet mit straightem Punkrock aber auch immer mehr durch. Wie klappt das zeitlich?

Zeitlich is das schon recht kompliziert. Wir könnten mit Kotzreiz jedes Wochenende im Jahr spielen. Aber das geht natürlich nich, weil JR immer Vorrang hat. JR is unser Beruf, der beste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Ich kann kein JR-Konzert absagen wo es ’ne flotte Gage für alle Beteiligten (Musiker, Bookingagentur, Licht/Tonmann, Tourmanager, Busfahrer, Backliner … tralalalala) gibt, mit der Begründung, dass ich gerne mit Kotzreiz für Spritkohle und ’nen Kasten Bier im Jugendzentrum in Pimmelsfelde auftreten möchte.

Wie würdest Du die beiden Bands für Dich selbst unterscheiden?

Wie ich schon sagte, JR is mein Job, der mir unfassbar viel Spaß macht. Ich wollte schon immer mit Musik mein Geld verdienen und das klappt seit vier, fünf Jahren ganz gut. Wir sind ja fast das halbe Jahr zusammen auf Tour, im Studio oder im Proberaum. So dumm und abgedroschen das klingen mag, aber das is schon so was wie ’ne zweite Familie. Kotzreiz haben mein bester Freund und ich vor fünf Jahren aus ’ner Schnapslaune heraus gegründet. Es war niemals drauf ausgelegt, dass wir da irgendwie Erfolg mit haben könnten. Das hat sich alles so ergeben, wir haben uns nie irgendwo beworben. Wir spielen immer noch ganz oft Auftritte, wo wir draufzahlen und keinen Pennplatz haben. Wir wollen einfach nur unseren Ufta/ufta-Punk spielen und mit netten Leuten nette Getränke trinken.

Mit Kotzreiz spielt Ihr auch auf Festivals im Line-up zusammen mit alten Genre-Helden wie Black Flag, Bad Brains, U.K. Subs oder den Kassierern. Eurer Slogan lautet „Punk bleibt Punk“ – also eher Ehre als Leichenschändung für Euch?

Klar, is das ulkig, wenn wir zum Beispiel mit Fahnenflucht, Slime oder Molotow Soda spielen. Alles alte Helden von früher. Aber das sind halt auch nur Menschen. Wir sind ja auch keine 15 mehr und pissen uns vor Angst und Respekt in die Hose bei so was. Die waren auch alle echt immer total nett zu uns, obwohl wir keine Iros und Killernietenjacken tragen. Die aber auch nich, psssssssssst! Wir können uns immer ganz viele unserer alten und neuen Lieblingsbands umsonst angucken und bekommen das Bier noch für lau. Darum geht’s doch!

Je mehr Du mit den beiden Bands in der Öffentlichkeit stehst, umso mehr wächst der mediale Druck. Bestimmte Statements können da schnell eine gefährliche Eigendynamik – positiv wie negativ – bekommen – siehe Feine Sahne Fischfilet oder auch Jennifer Rostock. Belastet Dich das oder muss man mit dem Risiko einfach leben?

Ich gehe mal davon aus, dass du den „JR findet Onkelz und Freiwild doof“-Shitstorm meinst?! Es war nich das erste Mal, dass wir uns von Bands wie Freiwild distanziert haben. Ich finde das auch wichtig und richtig. Ich will da jetzt auch gar nich näher drauf eingehen. Jeder, den das Thema interessiert, findet im Internetz genug Material, um Freiwild auch scheiße, fragwürdig oder gefährlich zu finden – oder eben als seine neue Lieblingsband zu erklären. Natürlich muss man aufpassen, was man so von sich gibt, und vor allem, wie man es von sich gibt, aber wir leben in einem Land, blablabla, freie Meinungsäußerung, blablabla. Ich persönlich kann mich mit dem, was Freiwild von sich geben und in ihren Texten propagieren, in keinster Weise identifizieren.

In der Krise der Musikbranche wird es immer schwerer als Musiker zu überleben. Deine beiden Bands scheinen erfolgreich zu sein. Häufig täuscht das aber, wenn es um das Finanzielle geht. Wie kommst Du über die Runden? Würdest Du Dich als professioneller Musiker bezeichnen oder hast Du noch andere Jobs?

Die arme Musikbranche, ja, das verfluchte Internet. Ich bin nich reich, auch wenn Videos mit meiner Beteiligung mal auf MTV (das war mal so’n Musiksender im Fernsehn) laufen. Als Musiker verdient man, wenn man nich grade Lady Gaga is, sein Geld hauptsächlich mit Live-Konzerten. Mit JR spielen wir seit fünf Jahren jedes Jahr knapp 100 Konzerte. Davon leben wir. Bei Kotzreiz kommt kein Geld rum. Das is unser Hobby. Die schönste Nebensache der Welt sozusagen!

Wie sehen die Pläne bei JR beziehungsweise Kotzreiz für das Jahr 2013 aus?

Wir haben grade die erfolgreichste JR-Tour überhaupt gespielt. Drei Wochen im Januar. Jetzt schreiben wir neue Songs und nehmen dann im Frühsommer eine neue Platte auf. Bis dahin spielen wir fast jedes Wochenende Konzerte mit Kotzreiz. Wir würden uns freuen, wenn Ihr uns besuchen kommt!

Danke für das Interview.

Guuuuuuude.

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