Illustration: Daniel Wiesen

Anschnallen, wir reisen in die Zukunft und denken Darmstadt nachhaltiger, sozialer und kreativer. Das P zeigt, was geht und vor allem: dass es geht! Denn was in Darmstadt noch Zukunftsmusik ist, ist andernorts längst Gegenwart.

I) Der Un-Ort: Vom Parkplatz zum Potenzialplatz

Lasst uns mal träumen: Es ist Sommer 2023, wir stehen auf dem Darmstädter Messplatz. Wo im Herbst 2022 noch Bauzäune standen, flanieren jetzt Menschen durch eine bunte Ansammlung von Containern und Hochbeeten, lümmeln unter Sonnenschirmen und spielen Federball. Der riesige Messplatz wurde schlau unterteilt und verschiedenen Darmstädter Initiativen und Vereinen zur Zwischennutzung überlassen. Ganz vorne entwickelt Transition Town einen Stadtgarten mit hitzeresistenten, wassersparenden Pflanzen. Weiter hinten hat das Team vom Osthang eine neue Bleibe für Kultur und Partys gefunden. An den Rändern stehen Buden mit Nachbarschaftswerkstatt, Büchertausch-Räumchen und einem kleinen Café, das regelmäßig einen Mittagstisch anbietet. Auf den Wegen flitzen Kinder mit ihren Fahrrädern durch den Verkehrsübungs-Parcours. Endlich hat das kulturell vernachlässigte Bürgerpark-Quartier einen Ort, an dem Nachbar:innen sich begegnen können. Klingt gut? Finden wir auch. Und diese Szene ist gar nicht mal so utopisch.

Wir erinnern uns. Ab 2025 soll auf dem 50.000 Quadratmeter großen Messplatz ein neues, nachhaltig geplantes Wohngebiet entstehen. Dafür ging das Areal im Sommer 2022 in den Besitz der Bauverein AG über. Seitdem ist der Platz, auf dem Darmstadt Frühjahrs- und Herbstmess‘ – sowie zweimal das Endlich Open Air – feierte und das Martinsviertel die Autos abstellte, eingezäunt.

Ob der Zeitplan angesichts des Mangels an Mensch und Material sowie steigenden Baukosten zu halten ist – abwarten. Doch selbst wenn: Drei Jahre sind eine lange Bauzaunzeit. Und 50.000 Quadratmeter eine große ungenutzte Fläche.

II) Der Dritte Ort: Freiherrs Garten in Wiesbaden

In Wiesbaden ging man mit einem großen Platz ganz anders um. Statt Bauzaunfläche hat ein kleiner Verein einen Ort für Kunst, Kultur und Jugendarbeit auf Zeit geschaffen. Und wurde dafür gerade erst mit dem Deutschen Nachbarschaftspreis geehrt.

Wiesbadens Messplatz ist ein Schulhof. Die Freiherr-vom-Stein-Schule in Wiesbaden-Biebrich wird 2023 dem Neubau eines Bürgerzentrums weichen. Die Pläne stehen seit einem Magistratsbeschluss 2019 fest. Was nicht feststand: Was bis zum Baubeginn mit dem riesigen Schulhof passieren sollte. Für Barbara Hölschen und ihre Nachbar:innen aus Biebrich war klar: Ein zentraler Platz darf nicht so lange brach liegen. „Während Corona war es traurig zu sehen, wie das Miteinander im Viertel immer mehr schwindet. Wir brauchten wieder einen Ort der Begegnung.”

Auf dem Schulhof sollte ein Platz für das nachbarschaftliche Miteinander entstehen – immer offen für alle. Mit kostenlosen Angeboten und ohne Konsumzwang. Ein Ort, an dem sich die Bewohner:innen des Quartiers ungezwungen aufhalten und einbringen können. Barbara Hölschen ist sicher: „Ein Ort ist nur dann wirklich offen für alle, wenn ich nichts konsumieren muss und mich trotzdem dort aufhalten kann.” Die Idee des „Freiherrs Garten” wurde geboren.

Barbara und ihre Nachbar:innen gründeten einen Verein und das städtische Schulamt vermietete den Schulhof zeitlich begrenzt ohne Gegenleistung an die Ehrenamtlichen.

Schnell eignete sich die Nachbarschaft den Ort an: Sie bemalten den grauen Betonboden in bunten Farben, bauten Bühne, Bar und Sitzgelegenheiten, stellten Hochbeete auf, die von Kindergartengruppen gepflegt werden und luden Graffiti-Künstler:innen ein, sich im Freiherrs Garten zu verewigen.

Nach und nach kam Leben auf den Platz. Anwohner:innen besuchten das regelmäßige Nachbarschaftsfrühstück oder am letzten Freitag im Monat „BühneFrei Biebrich“ mit lokalen Künstler:innen. Zwischendurch: Flohmärkte, Graffiti-Workshops, Konzerte, Sommerfeste der Vereine. Und wenn nächste Woche jemand einen Ort für einen Kindergeburtstag sucht: Einfach den Schlüssel beim Verein abholen. „Die einzige Bedingung ist, dass der Freiherrs Garten auch bei privaten Feiern für alle anderen offen bleibt. Und dass hinterher aufgeräumt wird, klar”, sagt Barbara.

Das Konzept wirkt: „Im Freiherrs Garten haben sich alte Schulfreunde nach 50 Jahren wieder getroffen, die nicht wussten, dass sie nur drei Straßen entfernt leben. Er ist ein Raum für echte Begegnungen!”

III) Brachflächen für alle

Der Freiherrs Garten ist ein sogenannter „Dritter Ort”. Ein Wohnzimmer für die Stadtgesellschaft – wo Menschen eine gute Zeit verbringen können, ohne etwas bezahlen oder konsumieren zu müssen. Dritte Orte bieten einen Ausgleich zu Familie und Beruf und sind in Skandinavien viel öfter Teil einer ganzheitlichen Stadtplanung. Oft sind Dritte Orte Bibliotheken oder Museen mit gemeinwohlorientierter Haltung. Aber auch ohne Dach über dem Kopf kann ein Dritter-Ort-Gefühl entstehen – anstatt nach Skandinavien müssen wir dafür nur rüber zum Osthang radeln.

„Ein Dritter Ort wie der Freiherrs Garten braucht drei Dinge”, erklärt Barbara: „Freiraum für Engagierte, Vertrauen von Stadt oder Eigentümer:innen und den Willen, den Ort für möglichst alle Menschen so zugänglich wie möglich zu machen.” Freiraum und Vertrauen steuerte die Stadt bei, die Haltung brachte der Verein mit.

Und wir in Darmstadt? Wo ist unser Schulhof, unser Eckplatz, unsere Brachfläche? Oder wird der Messplatz nun zum Dritten Ort für alle? Die Bauverein AG schreibt auf Anfrage des P, man habe sich bereits seit Monaten Gedanken über eine Zwischennutzung gemacht und prüfe, in welcher Form der Platz der Öffentlichkeit weiter für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung gestellt werden könne. „Die Bauverein AG steht mit einem ,Haupt-Pächter‘ in Kontakt, der die Fläche gerne weiter ,bespielen‘ beziehungsweise entsprechende Veranstaltungen im Rahmen einer Unterverpachtung ermöglichen will. Hier soll zeitnah eine Entscheidung fallen“, heißt es weiter. Wir drücken die Daumen für den Sommer 2023 auf dem Messplatz für alle.

 

Dritte Orte auf Brachflächen

Container Collective, München: Das Münchner Werksviertel – einst Heimat der „Pfanni“-Produktion, dann Europas größtes Kultur- und Club-Areal, heute Kreativ- und Innovationsstandort. Von 2017 bis 2021 bot das Container Collective in 39 ausgemusterten Schiffscontainern Platz für Cafés, Bars, Mode- und Musiklabels. Ein Ort der Begegnung und des Zusammenlebens, ausgezeichnet mit dem Sonderpreis für Baukultur. werksviertel-mitte.de/construction/container-collective

Waller Mitte, Bremen: Ebenfalls preisgekrönt ist die Waller Mitte in Bremen. Der ehemalige Sportplatz sollte bebaut werden, doch eine Bürgerinitiative und der Verein Waller Mitte wehrten sich – mit Erfolg! Bebaut ist der Platz nur am Rand – und zwar von Wohngruppen, die sich für den Platz einbringen. Die restliche Fläche ist frei zugänglich. Eine grüne Oase inmitten des Viertels, die Menschen vernetzt und ihre Lebensqualität steigert. Feste und Flohmärkte, ein spendenbasiertes Café, Volleyball- und Boule-Gruppen, Urban Gardening, Spielangebote und einiges mehr – alles selbstorganisiert von den Menschen des Viertels. waller-mitte.de

Stadionbrache, Zürich: Auf dem Areal Stadionbrache Hardturm soll eines Tages die neue Arena des FC Zürich stehen. Genauer gesagt sollte sie längst stehen. Doch der Bau verzögert sich aus politischen und juristischen Gründen Jahr um Jahr. Seit 2011 stellt die Stadt Zürich das Gelände dem Verein Stadionbrache zur Verfügung – für eine „quartierverträgliche, nichtkommerzielle Zwischennutzung“. Und es scheint, als könnten Hühnerstall, Pizzaofen, Community-Gärten, Naturkindergarten, Skatepark und vieles mehr noch einige Jahre am Hardturm bleiben. stadionbrache.ch

 

Architects for Future

Interessiert an nachhaltiger Stadtentwicklung? Die Darmstädter Ortsgruppe der Architects for Future trifft sich alle zwei Wochen und organisiert spannende Aktionen und Veranstaltungen zum Thema. Einfach melden unter instagram.com/architects4future_da

 

Anna und Tobi haben Lust auf Stadt mit Zukunft!

Wir sind Anna Groos und Tobias Reitz. Einst schrieben wir im P Magazin über unsere Küchenexperimente („Iss was!“). Heute experimentieren wir beruflich wie privat mit der Zukunft von Leben und Arbeit. Eines dieser Experimente führte uns 2021 ins nordhessische Homberg (Efze), wo wir mit 20 anderen Klein- und Großstädter:innen Co-Living und Co-Working auf dem Land testeten. Jetzt sind wir zurück in Darmstadt und haben richtig Lust auf Stadt mit Zukunft.