Illustrationen: Daniel Wiesen

Anschnallen, wir reisen in die Zukunft und denken Darmstadt nachhaltiger, sozialer und kreativer. Das P zeigt, was geht und vor allem: dass es geht! Denn was in Darmstadt noch Zukunftsmusik ist, ist andernorts längst Gegenwart.

I) Das alte Amt

Co-Working-Kooperative mit Café, Haus des Ehrenamts, Quartiersküche, Ateliers, Fahrradwerkstatt, Indoor Garden, Klimakompetenzzentrum, Wohnraum für Geflüchtete oder Obdachlose, Kinder- und Jugendzentrum, Künstler:innen-WGs, kunterbuntes Hostel … all das und noch viel mehr könnte aus dem ehemaligen Stadthaus in der Grafenstraße werden. Zumindest, wenn es nach den rund 50 Teilnehmer:innen des ersten utopischen Stadtspaziergangs ginge, die hier im Mai auf Einladung der Architects for Future auf seinen Stufen saßen und ihre Ideen in Zukunftsmodellen skizzierten.

Im Falle des Stadthauses werden die Ideen Utopien bleiben. Die Stadt hat längst eigene Pläne für die weitere Nutzung. So ist den Ausschreibungsunterlagen zur Sanierung des Gebäudes zu entnehmen, dass in die Büros in den Obergeschossen verschiedene städtische Nutzer:innen einziehen werden und im Erdgeschoss eine Ausstellungsfläche des Verbandes Deutscher Sinti und Roma entstehen wird.

Ist voll okay. Denn in diesem Artikel soll es gar nicht um die neue Nutzung des alten Stadthauses gehen, sondern darum, was Städte tun können, damit gemeinwohlorientierte Konzepte überhaupt zum Zuge kommen, wenn sich eine der seltenen Gelegenheiten dazu auftut.

Und damit sind wir bei einem anderen Amt und einem unsexy Begriff: dem Neuen Amt in Hamburg und dem Konzeptvergabeverfahren. Ja, unsexy Begriff – aber sexy Wirkung!

II) Das Neue Amt

Auch in Hamburg gibt es ein altes Amt. Mitten in der Fußgängerzone Altonas, zwischen der Großen Bergstraße und Neuen Großen Bergstraße, steht das ehemalige Finanzamt. Doch Steuerprüfungen finden hier schon lange nicht mehr statt. Mehr als zehn Jahre lang wurde es durch Kreativschaffende zwischengenutzt – ohne klare oder sichere Perspektive. Als sich die Stadt entschloss, das Gebäude 2018 zu verkaufen, wollte sie die Kreativen nicht vor die Tür setzen, sondern suchte eine Lösung: Nicht die meistbietende Partei sollte den Zuschlag für das alte Finanzamt bekommen, sondern diejenigen, die die bisherige Nutzung mit einem zukunftsweisenden Konzept verbinden und Altona nachhaltig bereichern konnten. Dass die Mietverträge für die Künstler:innen für mindestens zehn Jahre erhalten bleiben sollten, war ein wichtiges Kriterium beim Verkauf.

„Konzeptvergabeverfahren” ist Beamtendeutsch für: Eine Stadt möchte eine Immobilie verkaufen und dabei nicht nur nach dem Preis entscheiden, sondern auch festschreiben, wie die Flächen zukünftig genutzt werden sollen. Durch ein Konzeptvergabeverfahren bekommen auch diejenigen einen Platz am Verhandlungstisch, die nicht nur durch Geld, sondern auch durch Ideen überzeugen können. 

„Ohne das Konzeptvergabeverfahren hätten wir in Hamburg keine Chance auf so eine Immobilie gehabt”, sagt Christina Veldhoehn, eine der Vorständ:innen der Genossenschaft „Neues Amt Altona”. „Der Immobilienmarkt in Hamburg ist sehr angespannt. Es gibt nur noch wenige Flächen in öffentlicher Hand, private Grundstücke werden mitunter über Jahre von einem Investmentfonds an den nächsten verkauft, ohne dass auf ihnen irgendetwas geschieht. Nichts hieran orientiert sich am Gemeinwohl, an den wahren Bedürfnissen der Bewohner:innen. Gewinnmaximierung ist das oberste Gebot.”

Mit ihrem Co-Working-Haus wollen Christina und das restliche Team ihr Viertel aktiv mitgestalten: „Das Neue Amt Altona soll seinen Mitgliedern gehören und nicht Investoren, denen es nichts bedeutet. Deshalb kaufen wir die Immobilie als Genossenschaft.” Zentrales Co-Working um die Ecke, kombiniert mit einem etablierten Kulturangebot und einem öffentlichen Erdgeschoss mit Gastronomie und Veranstaltungen als Treffpunkt für die Nachbarschaft. Ein Ort für die Stadt von Morgen und ein Gegenentwurf zu Grund und Boden als Spekulationsobjekt. Eine neue Art der Stadtentwicklung.

III) Das Konzeptvergabeverfahren

Dass Konzeptvergabeverfahren ein Schlüssel für zukunftsweisende Stadtentwicklung sind, bestätigt Robert Temel. Er ist selbstständiger Architekt, Stadtforscher und Autor der Studie „Baukultur für das Quartier. Prozesskultur durch Konzeptvergabe“. „Mich fasziniert, wie ein einfaches Werkzeug so großartig dabei hilft, kreatives Potenzial frei- und umzusetzen“, sagt er. Der große Unterschied zum klassischen Bieterverfahren: In Konzeptverfahren werden meist Fixpreise verwendet. „So kann die Stadt Flächen unterhalb der marktüblichen Preise anbieten. Dadurch werden nicht-profitorientierte, gemeinwohlbezogene Nutzungen auf diesen Grundstücken überhaupt erst möglich.“ Denn am Ende gewinnt die Idee, die die festgelegten Kriterien am besten erfüllt – und nicht der oder die Meistbietende.

„Spannend wird es, wenn bereits die Kriterien in einem co-kreativen Prozess mit Bürgerinnen und Bürgern entstehen“, ergänzt Mona Gennies vom Netzwerk Immovielien. Das sei eine große Chance für gemeinwohlorientierte Vergabekriterien, zum Beispiel soziale, ökologische oder gesundheitliche.

Während Tübingen als Pionier bereits seit 25 Jahren auf Konzeptvergabe setzt und es sich in Städten wie Hamburg oder München zumindest im Wohnungsbau als Standardmodell für Grundstücksverkäufe etabliert hat, sind Konzeptvergabeverfahren in Darmstadt selten. Bekannt ist vor allem die Konzeptvergabe des Marienplatzes aus dem Jahr 2019.

Ob wir in Darmstadt und andernorts in Zukunft mehr Konzeptvergabeverfahren erleben werden, ob auch hier Nutzungskonzepte wie das des Neuen Amts Altona eine Chance hätten, hängt laut Temel und Gennies auch davon ab, wie gut es Städten gelingt, für das Modell Konzeptvergabeverfahren auch private Eigentümer:innen zu gewinnen. Denn bislang werden in diesen Verfahren meist städtische Grundstücke verkauft – und die werden immer seltener.

Zudem gilt: „Ein Konzeptverfahren ist natürlich aufwendiger als ein ganz normales Bieterverfahren. Es braucht planerische und juristische Kompetenz, es macht mehr Arbeit vor allem nach der Vergabe, in der Qualitätssicherung.“ Doch es lohne sich, sagt Robert Temel. „Dafür bekommt man als Stadt herausragende Projekte, die die Stadtteile lebenswerter machen.“

Was also könnten Politik und Verwaltung tun? „Konzeptvergaben sind alles andere als Alltag in Kommunen”, weiß Mona Gennies. „Ämter müssen gut zusammenarbeiten.” Sie rät, Kompetenzgruppen zum Thema zu bilden.

Und wir, die Stadtgesellschaft? „Bürgerinnen und Bürger müssen solche Verfahren von Politik und Verwaltung einfordern, ganz allgemein und bezogen auf bestimmte Entwicklungsgebiete, beispielsweise für Baugemeinschaften”, sagt Robert Temel. Mona Gennies ergänzt: „Kommunalpolitik ist gut erreichbar. Tretet an den Stadtentwicklungsausschuss heran, leistet politische Überzeugungsarbeit und zeigt der Verwaltung, dass es Interesse und gute Ideen nicht nur in Berlin gibt.“

Wird gemacht! Darmstadt, wie wär’s … mit mehr Konzeptvergabeverfahren?

 


Konzeptverfahren machen’s möglich!

Alte Feuerwache Weimar: 
War eine der letzten brachliegenden kommunalen Liegenschaften in Weimars Innenstadt – und wird ein beeindruckendes gemeinwohlorientiertes Wohn- und Quartiersprojekt. feuerwache-weimar.de

Gleis 21 Wien: 
Nachhaltig leben in Gemeinschaft, beeindruckend umgesetzt vom Wohnprojekt Gleis 21 in Wien. gleis21.wien

Neues Amt Altona: 
​​Co-Working in cool. Im alten Finanzamt wirkt jetzt die Neues Amt Altona eG. neuesamt.org

Noch mehr spannende Beispiele dafür, was aus Konzeptvergabeverfahren alles entstehen kann, gibt’s beim Netzwerk Immovielien und in der Studie „Baukultur für das Quartier – Prozesskultur durch Konzeptvergabe“, herausgegeben vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).

netzwerk-immovielien.de

bbsr.bund.de

 

Architects for Future

Interessiert an nachhaltiger Stadtentwicklung? Die Darmstädter Ortsgruppe der Architects for Future trifft sich alle zwei Wochen und organisiert spannende Aktionen und Veranstaltungen zum Thema. Einfach melden unter: instagram.com/architects4future_da

 

Anna und Tobi haben Lust auf Stadt mit Zukunft!

Wir sind Anna Groos und Tobias Reitz. Einst schrieben wir im P Magazin über unsere Küchenexperimente („Iss was!“). Heute experimentieren wir beruflich wie privat mit der Zukunft von Leben und Arbeit. Eines dieser Experimente führte uns 2021 ins nordhessische Homberg (Efze), wo wir mit 20 anderen Klein- und Großstädter:innen Co-Living und Co-Working auf dem Land testeten. Jetzt sind wir zurück in Darmstadt und haben richtig Lust auf Stadt mit Zukunft.