Foto: Jan Ehlers

Im digitalen Zeitalter scheint nichts mehr unmöglich, sogar Organe sollen mittels 3D-Drucker bald aus der Maschine kommen. Handarbeit mutet also schon fast exotisch an – und so kommt es, dass man auf dem Weg zu den Copy-Shops in der Magdalenenstraße verwundert vor diesem kleinen Handwerksbetrieb unweit des Kantplatzes stehen bleibt, einen Blick in das raumhohe Schaufenster wirft und sich fragt, was sich dahinter wohl abspielt. Ricarda Rau betreibt hier gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Pohl eine Handbuchbinderei.

Eigentlich ist Ricarda ein echtes Frankfurter Mädsche und erblickte im Jahr 1961 das Licht der Welt. Mit 15 kam sie nach Darmstadt. Über ihren Vater, der eine Werbeagentur besaß, hatte Ricarda schon früh Kontakte ins „Buchbinder-Milieu“. Nach dem Abitur absolvierte sie ein Praktikum in der Buchbinderei eines Bekannten, „weil ich damals nicht wusste, was ich sonst machen sollte“. Nach dem Praktikum, einem Jahr „Rumgammeln“ und dem Besuch einer Kunstschule bei Stuttgart stand der Entschluss fest: „Ich werde Buchbinderin.“ Diesmal aber nicht, weil Ricarda nichts anderes einfiel. Sie hatte vielmehr Gefallen an der handwerklichen und gleichzeitig kreativen Arbeit gefunden. An der Hochschule für Gestaltung in Offenbach riet man ihr, die Kunst des Buchbindens in einem Handwerksbetrieb zu erlernen. Nach erfolgreicher Ausbildung, Mutterschaft und Heirat entschloss sich Ricarda mit ihrem Mann Klaus eine eigene Buchbinderei zu eröffnen. Ihr Ladenlokal, das früher eine Apotheke war, ist voll mit schweren Gerätschaften, die man eher im Gutenberg-Museum vermutet. Beeindruckend.

Aber wer lässt sich heutzutage eigentlich noch ein Buch binden? „Buchliebhaber, sogenannte Bibliophile“, antwortet Ricarda. Klaus, der gerade noch in seine Arbeit vertieft war, fügt an: „Hört sich an wie Pädophile.“ Lautes Gelächter in der Werkstatt. Auch das ein oder andere Lebenswerk wurde hier schon gebunden: „Ältere Menschen tauchen auf, mit einem Stapel Papier unterm Arm. Die wollen nicht in den Copy-Shop gehen, ist ja klar – ist ja ihre Lebensgeschichte“, erzählt Ricarda. Doch mindestens genauso viele junge Menschen kommen in den kleinen Laden und lassen sich ihr bis dato wohl wichtigstes Werk binden: die Diplomoder Doktorarbeit. Vor allem Studenten der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gestaltung, zählen zu den Kunden.

Ricarda liebt es, mit Menschen in Kontakt zu kommen: „Wir sind eine Anlaufstelle – und ich bin extrem neugierig“, beschreibt sie die Rolle der Buchbinderei als Kommunikationsplattform. Der Teekessel ist immer einsatzbereit, oft duftet es nach Räucherstäbchen. Ein gutes Gespräch mit Ricarda geht immer. Zuhause schätzt sie die Ruhe – und gute Musik von Bach über Annamateur bis Der Familie Popolski, gerne auch live in der Centralstation.