Vorstandsmitglied Christoph Jetter und Vereinsvorsitzende Hannelore Skroblies | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Geschichte begegnet einem in Darmstadt an jeder Straßenecke – wenn man nur genauer hinsieht. Exakt das tut die Darmstädter Geschichtswerkstatt seit bald 40 Jahren. Der Verein deckt dabei auch immer wieder unbequeme Wahrheiten auf. Auf seine Initiative hin wird der Magistrat demnächst eine Gedenktafel auf dem Gelände des Klinikums enthüllen, die an das Schicksal von (geschätzt) mehr als 1.000 während des Naziregimes zwangssterilisierten Frauen und Männer erinnert.

„Verschwiegenes aufdecken und das Schweigen brechen“, fasst Vorstandsmitglied Christoph Jetter die Idee hinter der Geschichtswerkstatt zusammen. „Wir wollen an das Schicksal von Personen erinnern, die heute überhaupt nicht oder kaum noch bekannt sind.“ Bis vor Kurzem wussten nur wenige, dass im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt vermutlich mehr als 100 Akten schlummern, die eine Vielzahl von operativen und röntgenologischen Zwangseingriffen zur Unfruchtbarmachung von Menschen dokumentieren. Die NS-Ideologie stufte die Betroffenen wegen geistiger Erkrankung oder erblicher Körperbehinderung als „minderwertig“ ein. Ort des Geschehens war nach Beschlüssen der Erbgesundheitsgerichts das städtische Krankenhaus, Vorläufer des heutigen Klinikums. Den Hinweis auf die Akten erhielt die Geschichtswerkstatt von einer Enkelin eines in die Taten verstrickten früheren Amtsarztes. Die Frau rührte damit an einem Familientabu.

Entsetzen über operative und röntgenologische Zwangseingriffe

„Die Akten lasen wir mit Entsetzen“, sagt Jetter. Der Darmstädter Geschichtswerkstatt e. V. bildete sich 1983 aus einer Gruppe von Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen am Institut für Geschichte an der Technischen Hochschule Darmstadt, Vorgängerin der heutigen TUD. Hannelore Skroblies, Historikerin und seit vielen Jahren Vorsitzende des Vereins, war eines der Gründungsmitglieder. Zu Beginn der 1980er-Jahre entstanden in ganz Deutschland unter anderem nach schwedischem Vorbild Geschichtswerkstätten. Die Bewegung folgte der Losung: „Grabe, wo du stehst“, einem Buchtitel des Historikers Sven Lindqvist entlehnt. Leitidee ist bis heute eine „Geschichte von unten“ und „Geschichte vor Ort“, mit dem Fokus auf den „kleinen Leuten“ – Arbeitern, Frauen, Migranten, Minderheiten. „Bestimmte Themen und Blickwinkel“, sagt Jetter, „kamen in der ‚großen Geschichte‘ einfach nicht vor.“ Jetter, 87 Jahre alt, Jurist und früherer Gewerkschaftssekretär, ist seit 1995 dabei und möchte zum Ende des Jahres seine Vorstandstätigkeit abgeben.

Skroblies und Jetter erinnern sich noch gut an die Widerstände, gegen die sie anfangs kämpfen mussten. In der akademischen Geschichtswissenschaft war der Grundansatz von Geschichtswerkstätten noch nicht so anerkannt, wie er es heute ist. „Es gab damals so gut wie niemanden, der zum Nationalsozialismus in der Region geforscht hatte – mit Ausnahme des jungen Historikers Heinrich Pingel“, sagt Jetter. Zudem konfrontierten sie die Bürgerschaft in Darmstadt – in der NS-Ära Landeshauptstadt – mit einer Zeit, über die viele lieber weiter schweigen wollten. „Noch 1990 hielten wir einen Flyer über Darmstadt in der Hand. Da stand: Spatenstich Reichsautobahn, Brandnacht. Was sonst zwischen 1933 und 1945 passierte, fehlte komplett.“

Alternative Stadtrundgänge

Zu den frühesten Projekten, die der Verein bis heute anbietet, gehören alternative Stadtrundgänge. Neben dem Rundgang „Darmstadt als Industriestadt – Arbeit und Alltag um 1900“ widmet sich ein weiterer dem Thema „Widerstand und Verfolgung in Darmstadt im Nationalsozialismus“. Er führt unter anderem zu folgenden Stationen: Luisenplatz (in der NS-Zeit in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannt und Sitz des ehemaligen Landtags), Kaufhaus Henschel & Ropertz (die Nazis enteigneten die vorherigen jüdischen Eigentümer, die Familie Rothschild), Mercksplatz (hier fand 1933 die Bücherverbrennung statt), Rundeturmstraße 12 (ehemaliges Landgerichtsgefängnis mit Gestapo-Trakt und kurzzeitiger Außenstelle des KZ Natzweiler), Hinterhaus in der Dieburger Straße 36 (frühere Wohnung und Werkstatt des Schneidermeisters und kommunistischen Widerstandkämpfers Georg Fröba, den die Nazis 1944 hinrichteten). Auf Betreiben der Geschichtswerkstatt wurde an jeder der Stationen eine Informationstafel mit Erklärungen angebracht.

Es folgten viele weitere Projekte, die man an dieser Stelle kaum aufzählen kann. Hervorgehoben seien jedoch noch zwei: Das Erstellen von „Darmstädter Biografien 1933–1945“, einer Sammlung und Dokumentation von Lebensgeschichten von zumeist nicht oder wenig bekannten Menschen aus Darmstadt, die während der Nazizeit verfolgt, vertrieben und deportiert wurden. Eine Reihe davon stellte 2015 auch das P-Magazin in einer Serie in Kooperation mit der Geschichtswerkstatt vor. Zweites Projekt: das Bekanntmachen der Geschichte Karl Plagges, der als Wehrmachtsoffizier im heutigen litauischen Vilnius etwa 250 ihm unterstellten Zwangsarbeitern das Überleben ermöglichte. Der rettende Einsatz des gebürtigen Darmstädters wurde erst über 40 Jahre nach dessen Tod umfänglich bekannt.

darmstaedter-geschichtswerkstatt.de

 

Mach mit!

Die Arbeitsgruppe der Darmstädter Geschichtswerkstatt trifft sich regelmäßig. Neue Teilnehmer:innen sind jederzeit willkommen. Kontakt: info@darmstaedter-geschichtswerkstatt.de

 

Veranstaltungen der Darmstädter Geschichtswerkstatt:

Di, 03.05., 18 Uhr, im Haus der Geschichte: „Gernika und die Politik der Erinnerung in Spanien und Deutschland.“ Vorträge und Debatte anlässlich des Luftangriffs auf Gernika vor 85 Jahren (in Kooperation mit der Stadt Darmstadt und dem Instituto Cervantes).

Mo, 16.05.: „Sinti und Roma: Zur Geschichte einer Minderheit zwischen Stigmatisierung, Verfolgung und Selbstbehauptung.“ 17 Uhr, am Mahnmal für die aus Darmstadt deportierten Sinti, Große Bachgasse 7: „Die Schatten von Auschwitz und die Wunden meiner Eltern – Eine biografische Lesung zu Verfolgung und Widerstand.“ 19 Uhr, im Literaturhaus: „Bilder und Zerrbilder von Sinti und Roma in der Kunst.“ Vortrag von Peter Bell.

So, 22.05., 14 Uhr, Treffpunkt: am Brunnen vor dem Regierungspräsidium auf dem Luisenplatz: Stadtrundgang „Widerstand und Verfolgung in Darmstadt im Nationalsozialismus“.

Do, 23.06., 19 Uhr, im Haus der Geschichte: „Die Erfindung des Rechtsterrors in Deutschland – Die Ermordung von Walther Rathenau vor 100 Jahren.“ Vortrag von Dr. Florian Huber (in Kooperation mit dem Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie, Stadt- und Staatsarchiv“).

Fr, 01.07., ganztägig im Literaturhaus: Ausstellung „Retter in Uniform, Erinnerung an Karl Plagge (1897–1957)“. 18 Uhr, im Literaturhaus: Vortrag der Berliner Historikerin Dr. Beate Kosmala.