Foto: Jan Ehlers

Kaum ist die für Lilienfans fast schon gesundheitsschädigend aufregende Spielzeit 2017/18 vorbei, steht die WM vor der Tür. Das Turnier spricht aber längst nicht mehr alle Fußballfans an – zumindest in meinem Umfeld. Zu aalglatt die Veranstaltung, zu fragwürdig die Vergabepraxis der Endrunden, zu korrupt die FIFA, zu viel Kommerz. Das merken schon die Sammler der Panini-Sticker. In diesem Jahr kostet das Sammeltütchen 50 Prozent mehr als noch zur WM 2014. Schnöde Fußballerfotos als Lizenz zum Gelddrucken! Doch es gibt eine großartige Alternative, die einen schier vom Hocker reißt: das Tschutti Heftli – inklusive einer aktuellen Lilie!

So habe ich Dong-Won Ji noch nie gesehen. Die Haare des südkoreanischen Nationalspielers sind zerzaust, die geschlossenen Augen nach unten gerichtet und auf seiner Wange prangt eines der vier Trigramme, die auf der Nationalfahne seines Heimatlandes zu finden sind. Doch ich habe es nicht mit dem leibhaftigen Ji zu tun, sondern mit einer Illustration. Der Syrer Raed Khalil hat die Offensivkraft der 98er abgebildet und ins Tschutti Heftli gebracht. Das Sammelalbum aus der Schweiz ist ein echter Hingucker, denn Spieler und Trainer der WM-Teilnehmer werden von unterschiedlichen Künstlern gestaltet. Das Heftli gleicht deshalb einer Galerie, an deren Vielfalt und Kreativität man sich beim Durchblättern nicht satt sehen kann.

Die Spieler Uruguays könnten geradewegs einem Asterix-Comic entsprungen sein, die Spanier haben sich in alte Kupferstiche geschmuggelt. Die Peruaner wiederum kommen im Look eines QR-Codes daher. Die Konturen der Schweizer ergeben sich aus den Linien des Spielfeldes, die Senegalesen sind im Linoldruck gehalten. Den Vogel schießt jedoch der Schöpfer der serbischen Nationalspieler ab: Er hat sie aus Bügelperlen kreiert!

Gegen den Kommerz, für die Kultur


Doch wer und was steckt hinter diesem fantastischen Projekt, dessen Name aus dem urigen helvetisch-englischen Begriff tschutten (kicken) kommt? Alles begann vor der Euro 2008 in der Schweiz und Österreich. Das durchkommerzialisierte Event ging dem Luzerner Silvan Glanzmann [hier geht’s zum Interview mit Silvan auf Matze Kneifls Kickschuh-Blog] und seinen Freunden ganz gehörig auf den Zeiger: „Es ging darum, wo welches Bier ausgeschenkt werden darf, welcher Sponsor wo präsent sein darf und dann wurde auch noch das geplante kulturelle Rahmenprogramm gestrichen. Da mussten wir einfach handeln.“ Da sie bereits das inzwischen eingestellte Fanzine „Tschutti Heftli“ herausgaben und Silvan als Illustrator arbeitete, kam ihnen die Idee, die Spieler der Teilnehmerländer zu zeichnen und als Sammelsticker aufzulegen. „So war das Heftli unsere künstlerische Antwort auf die Panini-Sammelbilder und auf die voranschreitende Kommerzialisierung.“

Glückwunsch, kann man da nur sagen, denn Silvan und seine Freunde trafen mit ihrem Ansatz den Nerv ihrer Landsleute. Sie verkauften die selbst gestalteten und eingetüteten Sticker unter anderem in ihren Stammkneipen in Luzern und Zürich. Das Resultat: Sie mussten nachproduzieren – am Ende verkauften die Fußball-Kunst-Pioniere für sie unfassbare 500.000 Sticker. Was lag da näher, als zur WM 2010 ein neues Tschutti Heftli ins Rennen zu schicken?

Zur anstehenden WM 2018 in Russland kommt das sechste Sammelalbum auf den Markt. Inzwischen ist es in Deutschland erhältlich, seit diesem Jahr flächendeckend und endlich erstmals auch in Darmstadt. Getreu ihrem kulturellen und konsumkritischen Ansatz verwenden Silvan und seine Mitstreiter einen Teil der Einnahmen, um soziale Projekte zu unterstützen. In der Schweiz ist dies Terre des hommes, in Deutschland Viva con Agua. Der gemeinnützige Verein sorgt dafür, weltweit den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu fördern.

Maradona als Eintrittsticket


Mittlerweile hat das Tschutti Heftli nicht nur bei immer mehr Fußballfans einen Stein im Brett, sondern auch unter Grafikern, Illustratoren und Zeichnern. 523 Künstler aus über 60 Ländern haben sich im letzten Jahr mit ihren Entwürfen um einen Platz im aktuellen Album beworben. Sie alle mussten Diego Maradona gestalten, bevor eine internationale Jury sowie Silvan und seine Freunde die Gewinner kürten. Einer der Sieger gestaltete Maradona aus weißem Pulver, das aus einem Tütchen rieselte. Eine Anspielung auf die Drogenvergangenheit des Kickers. Chuzpe rules! Eine Neuheit im seit April verfügbaren Heftli sind von 48 Grafikdesignern entworfene Aufkleber zu jeder Vorrundenpartie. Die Kreativität der Sticker begeisterte vor ein paar Jahren sogar Ex-Bayern-Spieler Xherdan Shaqiri. Als Silvan ihm Bildli mit seinem Porträt vorlegen ließ, signierte er sie nicht wie gewünscht, sondern behielt sie lieber selbst.

Wer sich also in die großartigen Sammelsticker vergucken will, der sollte nicht lange zögern, sondern umgehend zuschlagen. Es lohnt sich! Ehrenwort! Umso schöner, dass sich die Macher um Silvan treu geblieben sind: „Wir konnten den Charme unserer Alben erhalten und sind nicht in eine kommerzielle Richtung abgedriftet. Und darauf sind wir wirklich stolz. Wir wollen einen künstlerischen Beitrag zur Fußballkultur leisten, jenseits von Mainstream und Kommerz. Ich bin überzeugt, dass uns dies gelungen ist.“ Das lässt sich unterstreichen!

Gegen die liebevollen Sammelsticker der Schweizer sieht Panini jedenfalls verdammt alt aus. Auch wenn Dong-Won Ji reichlich erschöpft dreinblickt. Aber wer will es ihm nach der turbulenten Liliensaison verübeln?

 

Win! Win!

Das Tschutti Heftli (für 3,90 €, 10 Sticker für 1,70 €, pro Tüte 9 Cent an karikative Projekte) gibt es an mehr als 20 Kiosken und Bahnhofsbuchhandlungen in Darmstadt und Umgebung. Wo genau, verrät Euch der Kiosk-Finder auf www.tschutti.de.

Win! Win! Das P verlost bis 11. Juni 3 x 1 Heft plus 3 Tütchen.

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

www.hochundweit.wordpress.com