Illustration: André Liegl
Illustration: André Liegl

Eines ist klar: Der Datterich würde heute Zeitforscher begeistern und uns einen Weg aus der Tretmühle der industriellen, beschleunigten Wachstumsgesellschaft weisen. Denn er erstreitet sich, was uns verloren geht.

Kurzer theoretischer Exkurs: Jeder Mensch hat eine innere Zeitkultur, nennen wir sie: Zeitperson. Mit jedem Auftritt und Gespräch veräußert er diese innerliche, ihm eigen gewordene Zeit an andere. Sie kehrt sich im Aufeinandertreffen mit dem Gegenüber nach außen und paart sich mit dessen Zeitperson zu dem, was wir Gesprächsatmosphäre nennen. Eine Zeitperson schmiegt sich an die andere an, wenn sie zueinander passen. Oder beide Elemente reiben sich aneinander: Betonung, Sprechtempo, Gestik, Mimik und zuvorderst die Inhalte.

Man kann sich der eigenen Zeitperson bewusst sein und sie gezielt einsetzen. Das Ziel dabei ist: den Gesprächsraum aller mit den eigenen Zeitprämissen zu impfen, um Zeit zu gewinnen und sich maximal entfalten zu können. Oder man hält sich mit seiner Zeitperson zurück, lässt andere gewähren, hört zu und setzt die eigenen Gesprächs- und Entspannungsinteressen nur sparsam und langsam ein.

Datterich als zeitlicher Eroberer

Auch wenn unser Held, der Datterich, die Langsamkeit liebt, die Schule schwänzt, gerne und lang schläft sowie die meiste Zeit als Gast in Häusern zelebriert. Auch wenn er also vieles in sich trägt, was wir mit einem langsamen und genüsslichen, wohl dahin lebenden Muße-Menschen in Verbindung brächten, so ist er doch nicht von dieser Sorte. Denn er hat eine ausgeprägte, sehr aktive eigene Zeitperson, mit der er Räume erobert und Seilschaften sichert. Er, der es nur mit permanentem Bündnis-Schmieden durch die gestrenge Biedermeierwelt schafft, ist ein Meister des Aufoktroyierens, Manipulierens, Inanspruchnehmens, Versprechens, Ankündigens und Ausmalens.

Das ist sicher, auch bei aller Sympathie, kritisch zu sehen. Nassauer, Spitzbub, Scharlatan – er wurde vieles geheißen. Doch bei allen rechten und unrechten Mitteln sichert sich der Datterich etwas, nach dem wir uns heute in der vom Psychologen Stephan Grünewald postulierten „erschöpften Gesellschaft“ sehnen, es gleichzeitig im permanenten Streben nach Nützlichkeit aber doch abtun. Obwohl sie Befreiung brächte, sie uns légere machte und Räume zurück gäbe, die wir innerlich vermissen. Räume des Nichtstuns, des freien Driftens und Schweifens, der gedanklichen Reisen und aus jeder Verwertungslogik ausgestiegenen An-, Ein- und Ausfälle. Ja, sie brächte Unabhängigkeit zurück und Autonomie.

Grafik: André Liegl
Grafik: André Liegl

Datterich holt sich, was wir vermissen

Die Rede ist von der Muße – allerdings nicht Muße im Sinne eines schöngeistigen Adligen, der auf einem barocken Divan-Verschnitt Fasanenkeule zuzelnd auf seine Rosenreihen schielt, sondern eine aktive Muße. Sie ist, anders gesagt, eine tätige Ruhe, da sie zunächst springlebendig und eben auch auf Eigeninteressen bedacht sein darf.

Datterichs Zeitperson steht plakativ für diese spezielle Art der nach außen getragenen Eigenzeit. Plakativ, weil er durch Arbeitslosigkeit einen sehr großen Raum für Experimente und seine zeitliche Enfaltung hat. Und plakativ, weil Darmstadts klügster Schoppepezzer durch seine windigen Manöver auch den Widerstand gegen die sich formierende Biedermaier-Borniertheit vorlebt.

Er lebt es in immer neuen, von ihm eroberten Kommunikationsräumen vor, in denen er zwar irgendwann fällt, die ihm aber doch zwischenzeitlich Entfaltung bieten. Datterichs Muße, sie ist eine angewandte Muße. Ein Mantel, den er über jede Szenerie legt, bis er diese damit eingehüllt hat und schließlich sitzt, trinkt, räsoniert, fabuliert – und sich mit eben diesen Tätigkeiten in seine ureigenste, im Kern nichts-fragende Seinsform begibt. Muße kann, so ist zu lernen, erredet werden.

Auch „Dittsche“ sollten wir einladen

Eigenzeit, Raumaneignung, Entfaltung – Zeitforscher würden unseren Helden lieben. Wir sollten sie einladen zum Festival, etwa die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs „Muße“ der Universität Freiburg. Keinesfalls fehlen darf auch Olli Dittrich alias „Dittsche“. Nichtstun und Intelligenz kommen bei ihm mit glänzender Eigenrhetorik und Flüssigkeiten im Zentrum des Geschehens zusammen. Ganz wie bei unserem Lokalmatador.

Ein näherer Vergleich beider Charaktere – das wäre auch einen Text wert. Oder ein gefilmter Neo-Datterich nach Dittsche-Manier mit ausgesuchten Darmstädter Originalen, die täglich ein Jahr lang in „Bockshaut“ und „Grohe“ über die Welt sinnieren. Jeder könnte vorbeikommen und mitmachen. Ich wäre direkt dabei. Schon allein, um einmal näher die Geheimnisse von Mühltal und Datterichs Sehnsuchtsort „Drahse“ (Traisa) zu lüften, weil ich vun dord hinnerm Buggel herkumm und hier tiefgreifendste Originale ausgemacht habe, die unserem Held sehr ähneln. Sie sitzen unter anderem in einer Schänke an der Ecke. Sie heißt Datterich.

www.datterich-festival.de

 

Torsten Schäfer, Verfasser dieses Beitrags, ist Journalist, Professor für Journalismus an der Hochschule Darmstadt, geborener Rämschder, bekennender Lokalpatriot und großer Dialektfan.