Betritt man die Katakomben des „Merck-Stadions am Böllenfalltor“, kommt es einem vor, als sei die Zeit stehengeblieben. Nostalgisches Ambiente, wohin man sieht – und die Tür zum Presseraum lässt sich noch immer nur unter Aufbringung extremer Leibeskräfte öffnen. Dennoch hat sich viel verändert im Vergleich zu „früher“, als man die 2. Fußball-Bundesliga noch am „Skizziertisch“ plante. Am 19. Mai 2014, kurz vor 23 Uhr, ist sie einfach „passiert“, die 2. Liga. Und das ist gut so – für den Verein, die Fans, die Stadt und die Region.
Die Gegensätze liegen förmlich in der Luft, viel Altes und Bekanntes ist zu finden und dennoch – der neue Geist schwebt über allem und bringt genau den frischen Wind, den alle jahrelang, gar jahrzehntelang, herbeigesehnt haben. Frischer Wind, der dringend nötig war, denn der SV Darmstadt 98 lief zunehmend Gefahr, im Fußball-Niemandsland zu verschwinden.
Ein Gespräch mit einem der „Köpfe“ dieses neuen Geistes, Trainer Dirk Schuster, macht deutlich: Die Strukturen haben sich im Gegensatz zu früheren Zeiten stark verändert. Der Traditionsverein ist zwar an vielen Stellen noch immer traditionell und familiär. Doch die neuen Wege sind unverkennbar und dominieren das Handeln des Vereins.
Kurze Wege, klare Regeln, konsequentes Handeln
So kann Schuster, der Ende 2012 das Traineramt beim SV Darmstadt 1898 e. V. – damals abgeschlagen am Tabellenende der 3. Liga – übernahm, mit seinem kleinen Trainerteam (Co-Trainer Sascha Franz, Torwarttrainer Dimo Wache) auf kurze Wege, klare Entscheidungskriterien und einen sehr überschaubaren „Entscheiderkreis“ bauen. „Wir als sportlich Verantwortliche entscheiden gemeinsam mit Tom Eilers [der die Vertragsangelegenheiten bearbeitet, Anm. d. Red.] und dem Präsidenten Rüdiger Fritsch auf kurzem und direktem Weg. Nur wenn unter uns Einstimmigkeit herrscht, setzen wir das Geplante in die Tat um. Ansonsten eben nicht.“
Klare Regeln und konsequentes Handeln in engem Kreis. Das Böllenfalltor hat diesbezüglich auch schon andere Zeiten erlebt, als sehr viele sich für befähigt hielten, über den Verein, alle sportlichen und kaufmännischen Entscheidungen sowie die Angestellten zu bestimmen – erwiesenermaßen weniger erfolgreich und gar existenzgefährdend.
Auch wenn ein kleines Team mehr Arbeit für jeden Einzelnen mit sich bringt, möchte Schuster dieses Team nicht größer wissen. „Unsere Wege sind kurz, wir haben ähnliche Ansichten, Kriterien und Vorstellungen, so dass die Zusammenarbeit zwischen uns reibungslos funktioniert und von hohem Respekt untereinander geprägt ist. Daher ist auch die Vertrauensbasis sehr hoch. Und das ist in diesem Geschäft sehr viel wert“, so Schuster, der ergänzt: „Je mehr Personen man in solche Abläufe einbezieht, desto schwerer wird es, solch ein vertrauensvolles Arbeiten konstruktiv aufrecht zu halten.“
Hohe Vertrauensbasis, familiäres Miteinander
Von früh morgens bis meist spät abends sind Schuster, Franz und Wache im Stadion und kümmern sich um fast alles selbst – von der Organisation und Buchung der Auswärtsfahrten bis hin zu den kleinen Dingen eines jeden Sportlerlebens. Weil sie – im Gegensatz zu vielen anderen Zweit- und Erstligisten – weder einen Sportlichen Leiter noch einen Team-Manager haben. „Die Aufgaben sind untereinander gut verteilt, das Familiäre schweißt eben zusammen“, erklärt Schuster.
Doch genau dieses „Familiäre“ wurde früher oft als Nachteil angesehen, stattdessen auf Biegen und Brechen versucht, „professionellere Strukturen“ einzuführen. Jetzt wird aus der Not eine Tugend gemacht, die Übersichtlichkeit als Vorteil für das eigene Handeln gesehen. Der neue Geist – da ist er wieder.
Schuster und sein Team leben damit das vor, was sie von ihrer Mannschaft erwarten: Ärmel hochkrempeln und hart arbeiten. Auf der Basis des gegenseitigen Respekts den anderen anerkennen – und alles für die Mannschaft geben. Jeder soll für den anderen da sein, helfen, wenn Hilfe benötigt wird – ohne die eigene Person in den Vordergrund zu stellen. Das Trainer- und Entscheiderteam stellt durch sein eigenes Tun das unter Beweis, was es von der Mannschaft einfordert: „Bei mir weiß jeder, woran er ist. Ich bin für meine Spieler da, sie können immer zu mir kommen. Das erwarte ich von ihnen untereinander aber eben dann auch“, betont Schuster. Und wenn man dann sehe, dass Fans mit organisierten Zügen, Schiffen und Flugzeugen zu Auswärtsfahrten anreisen und somit alles für den Verein geben, würde man eben auch selbst als Verantwortlicher das Letzte aus sich herausholen.
Ein positiver Kreislauf
Eben das erwartet der gebürtige Chemnitzer auch von seinen Spielern: diszipliniert arbeiten, vollen Einsatz bringen und niemals aufgeben. Da es der Mannschaft seit Monaten gelingt, diese Tugenden auf den Platz zu bringen, „verehren“ die Fans dieses Team. Ein positiver Kreislauf entsteht.
„Man nimmt uns ab, dass wir genauso alles für den Verein geben wie die meisten unserer Fans dies tun. Die Menschen honorieren, wenn sie sehen, dass einfach alles von uns versucht wird. Wenn es dann am Ende nicht reicht, hat man aber ehrliche, harte Arbeit abgeliefert. Deshalb kommen die Leute ins Stadion. Und nur so ist auch die Euphorie zu erklären, die schon am letzten Spieltag der Saison 2012/13 vorherrschte, obwohl die Mannschaft faktisch erst einmal abgestiegen war. Man hat uns aber ehrlich abgenommen, dass wir in der Rückrunde alles versucht haben, um den Abstieg zu verhindern. Die Fans haben uns gefeiert und damit zum Gewinn des Hessenpokals gepusht, was wiederum die Qualifikation für den DFB-Pokal bedeutete. Und als wir dann auf Grund des Lizenzentzuges für die Offenbacher Kickers doch noch in der Liga bleiben konnten, wurde dieses Verhältnis immer intensiver“, fasst der Erfolgstrainer die jüngste „Lilien“-Geschichte zusammen.
All dies scheint in der Tat der Grund zu sein, warum Schuster & Co. es geschafft haben, im Verein, unter den Fans, den Sponsoren, der Stadt und der gesamten Region ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schüren, aus dem im Erfolg schließlich die Euphorie entstand, die selbst an einem Mittwochabend gegen einen mäßig interessanten Gegner 12.500 Zuschauer ins „Merck-Stadion am Böllenfalltor“ lockt.
All dies gepaart mit der Trotzreaktion und dem Jetzt-erst-recht-Motto einiger Spieler, die Mitte 2013 nach dem überraschenden Verbleib in der 3. Liga unter Zeitdruck und sehr spät als größtenteils „Vereinslose, Absteiger und Verlierer“ (Zitat Schuster) verpflichtet wurden, hat diese unnachahmliche Leidenschaft entfacht, die die Mannschaft nahezu notorisch Spieltag für Spieltag auf den Platz bringt. Und die in der grandiosen Aufholjagd im Relegationsspiel zur 2. Bundeliga in Bielefeld gipfelte, das die Mannschaft nach einer 1:3-Heimniederlage in der Verlängerung in Bielefeld noch für sich entscheiden konnte.
Schuster vermittelt der Mannschaft neben den bereits erwähnten Tugenden aber auch den Spaß am Spiel und am Wettbewerb, so dass er nahezu alle Elemente seiner Trainingsinhalte auf der Basis des Spielens und Arbeitens mit dem Ball und dem Wettbewerbsgedanken aufbaut. „Nur so kann ich die Jungs auch bei Laune halten, Fußball ist doch ein Spiel und soll Spaß machen. Das steht bei mir absolut im Vordergrund“, meint Schuster.
Und Schuster bleibt sich auch im Erfolg treu. Er ist bescheiden, ehrlich und fair. So bestimmte er im sensationellen Siegestaumel in Bielefeld seiner Mannschaft, in der dortigen Kabine nicht übermäßig zu feiern. Schließlich sei der andere Verein abgestiegen und Arbeitsplätze gingen dort verloren. Feiern könne man im Bus und nach der Rückkehr in Darmstadt noch ausgiebig genug. Geprägt war diese Entscheidung von den eigenen Erlebnissen ein Jahr zuvor in Darmstadt, als man gegen die Stuttgarter Kickers selbst abgestiegen war und diese dann die halbe Kabine auseinandernahmen und so ihren Sieg demonstrierten.
Der Druck kommt von alleine
Ein weiterer Unterschied im Vergleich zu vergangenen Zeiten: Wurden früher zumeist „hohe Ziele“ vorab propagiert und bereits sämtliche Maßnahmen für das Erreichen dieser Ziele ergriffen, ohne diese jemals tatsächlich zu erreichen, heißt es jetzt: einen Schritt nach dem anderen gehen. Und hat man sein Ziel erreicht, müsse man, so Schuster, nicht zwangsläufig die Zielsetzung neu ausgeben, sondern schaue dann eben von Spieltag zu Spieltag. Und wenn man dann merke, „dass da doch mehr geht“, könne man immer noch entsprechende Weichen stellen und Entscheidungen treffen. Die Devise lautet: Nicht den Druck auf alles und jeden unnötig erhöhen, sondern Druck herausnehmen und dann gut damit umgehen, wenn er von alleine kommt. Eine Herangehensweise, die bisher von Erfolg getragen wird.
Natürlich sei bisher auch Glück im Spiel gewesen, weiß Schuster realistisch einzuordnen. Dennoch sieht er in dem gewachsenen Team, das menschlich „top zusammenpasst“, und den Strukturen eine Perspektive, in der 2. Fußball-Bundesliga zu bestehen. Voraussetzung sei aber zwangsläufig der Bau des neuen Stadions, das zur Saison 2016/2017 fertig sein soll. „Wir brauchen den damit zusammenhängenden wirtschaftlichen und infrastrukturellen Faktor ungemein. Städte wie Leipzig, Kaiserslautern und viele andere sind uns da um Längen voraus, wir brauchen diesen nächsten Schritt nun unbedingt, um das Team dann auch dauerhaft konkurrenzfähig zu halten. Um dies zu erreichen, benötigen wir mittelfristig punktuell schon auch noch gute Verstärkungen“, hält Schuster fest.
Klar ist, dass man bei einigen Heimspielen am Böllenfalltor bereits jetzt mehr als 15.000 Karten verkaufen könnte. Nur wurde das „altehrwürdige Bölle“ durch die DFL eben nicht für mehr Zuschauer freigegeben. In diesem Fall ist Tradition zwar schön, charmant und gut, nur kaufen lässt sich davon leider nichts. Das neue „Lilien“-Stadion mit einem Fassungsvermögen von rund 18.000 Zuschauern wird über diverse Logen verfügen, um eben auch finanzkräftigen Sponsoren attraktive Angebote unterbreiten zu können.
Der Verein scheint auf einem guten, einem richtigen Weg zu sein. Bleibt zu hoffen, dass all die Tugenden und Strukturen beibehalten und nach und nach noch verbessert werden können. Denn schön wäre es, wenn die 2. Liga noch lange Realität in Darmstadt bliebe. Und mit ihr das erfolgreiche Team um Präsidium, Trainerstab und Mannschaft.
Hintere Reihe (von links): Fitnesstrainer Frank Steinmetz, Serkan Firat, Florian Jungwirth, Tobias Kempe, Julius Biada, Aytac Sulu, Sandro Sirigu, Timon Fröhlich, Michael Stegmayer, Marco Komenda, Mannschaftsarzt Dr. Michael Weingart, Mannschaftsarzt Dr. Klaus Pöttgen Mittlere Reihe: Cheftrainer Dirk Schuster, Co-Trainer Sascha Franz, Torwarttrainer Dimo Wache, Hanno Behrens, Janik Bachmann, Ronny König, Dominik Stroh-Engel, Benjamin Gorka, Romain Brégerie, Aaron Berzel, Betreuer Helmut „Bubu“ Koch, Betreuer Utz Pfeiffer, Physiotherapeut Dirk Schmitt Vordere Reihe: Fabian Holland, Jerôme Gondorf, Marcel Heller, Patrick Platins, Christian Mathenia, Marius Sauss, Maurice Exslager, Milan Ivana, Marco Sailer Auf dem Foto fehlt: Leon Balogun (Neuzugang).
Super-„Lilien“, Super-„Lilien“ … hey … hey!
Fr, 28.11., 18.30 Uhr: SV Darmstadt 1898 – Karlsruher SC
Sa, 06.12., 13 Uhr: SV Darmstadt 1898 – SpVgg Greuther Fürth
So, 14.12., 13.30 Uhr: FC St. Pauli – SV Darmstadt 1898
Mi, 17.12., 17.30 Uhr: SV Sandhausen – SV Darmstadt 1898
So, 21.12., 13.30 Uhr: SV Darmstadt 1898 – FC Ingolstadt
Fußballkneipen – gibt’s die noch?
Pay-TV-Sender „Sky“ hat wieder mal krass die Preise für Sportsbar-Betreiber erhöht, weshalb auch in Darmstadt einige Fußballkneipen ihr Abo kündigten (unter anderem das Red Barn, die Centralstation-Lounge, The Pub).
Wo in Darmstadt kann man überhaupt noch Bundesliga, Champions League – und speziell natürlich die Spiele des SV Darmstadt 98 in der 2. Liga – live verfolgen?
Das P liefert Antworten! Wir haben unsere Fußballkneipen-Übersicht für Euch aufgefrischt und sie > auch gleich online gestellt.