Zwei Mitglieder von Nektar: Derek Moore und Roye Albrighton, Anfang der Siebziger | Foto: Martinus Boll

In Zeiten der Pandemie richten wir unseren Blick zurück auf musikalische Entwicklungen der letzten 70 Jahre in Darmstadt, die ähnlich viral gingen wie Covid-19. Gösta Gantner lässt einige Sternstunden der Darmstädter Sub- und Popkulturszene aufleben.

Folge 2: Die Politisierung und Professionalisierung der Subkultur in den 1970er-Jahren

Kaum eine Zeitspanne der westdeutschen Nachkriegsgeschichte scheint so einschneidend gewesen zu sein wie die Umbrüche im Denken, Fühlen und Handeln, die wir mit der Jahreszahl und Chiffre „1968“ verbinden. Kaum einer heranwachsenden Generation ist es im Zuge ihrer Historisierung gelungen, so epochal aufzutreten. Selbst die heutigen politischen Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse beziehen sich entweder wohlwollend oder abstoßend auf diejenigen neuen sozialen Bewegungen, die Mitte der 1960er eine Aufarbeitung der Vergangenheit und eine weitreichende Emanzipation von überkommenen Herrschaftsverhältnissen in sexueller, familiärer, ökonomischer und politischer Hinsicht anstrebten. Eine politisierte Renaissance der „Goldenen Zwanziger“, so erscheint es zumindest im Nachhinein, vollzieht sich in den Siebziger Jahren. Diese gesellschaftspolitischen Entwicklungen in vielen Teilen der Welt gingen auch an der Musik nicht spurlos vorbei. Beat und Rock wurden politisiert, zum lautstarken Element einer studentisch dominierten Revolte.

Was jedoch verblüfft: Die Darmstädter Proteste wurden kaum von nennenswerten Bands aus der lokalen Musikszene begleitet. Im Vordergrund stand die politische Agitation in Form von Sit-ins und Demonstrationen, die seit 1968 von Studierenden an der TH – heute: TU – Darmstadt ausgingen. Sie wurden von Hausbesetzungen (etwa des ehemaligen „Hotel Traube“), von der Beteiligung an gewerkschaftlichen Streiks (1971: Merck-Streik) oder von pädagogischen Alternativprojekten wie der ersten „Kinderwerkstadt“ und des Vereins für nicht-repressive Erziehung (Gründung 1969) flankiert. Im Genre „Protestsong“ lässt sich für Darmstadt aber zumindest die Compilation „Osttangenten-Blues“ aufführen. Der 1978 produzierte Sampler mit „Liedern gegen den Tritt“ vereint verschiedene Hobbymusiker*innen zu unterschiedlichen Themen wie dem Atomkraftwerk in Biblis, der Diskriminierung von Frauen oder dem politischen Handeln der lokalen Eliten. Unmittelbarer Anlass war jedoch die durch das Martinsviertel geplante und aufgrund von Bürgerprotesten aufgegebene Umgehungsstraße „Osttangente“. Aus dem Song gegen den Bau des nun endlich abgeschalteten AKW Biblis stammt auch das Zitat, das die Überschrift dieses Artikels bildet.

 

Platten-Cover „Osttangenten-Blues und andere Lieder gegen den Tritt“, 1978 | Foto: Osttangenten-Blues

Wenn auch nicht explizit politisch, so doch im linksalternativen Kulturmilieu ist die Ausnahme-Band Nektar zu verorten. Die 1969 in Hamburg gegründete Gruppe mit britischen Wurzeln zog wenige Monate später nach Seeheim-Jugenheim, um dort ein Kommunarden-Leben zu führen. Sie gelten neben Yes und Pink Floyd als Erfinder des Psychedelic Rock mit entsprechendem internationalen Bekanntheitsgrad. Ihre zahlreichen Live-Konzerte in der Region waren für die hiesige Szene auch wegen der innovativen Licht- und Dia-Shows außerordentlich auf- und anregend. Ebenfalls von gesellschaftspolitisch motivierten Ambitionen eher unbefleckt, entwickelte sich eine rege Szene von Mundart-Rockbands in Südhessen wie den Rodgau Monotones (seit 1977) oder Flatsch (1979-1988). Diese beiden Gruppen werden zumeist hervorgehoben, weil aus ihrer Mitte das bis heute erfolgreiche Comedy-Duo Badesalz hervorgegangen ist.

Die 1970er-Jahre wurden von einem nicht unerheblichen Drogenkonsum junger Menschen begleitet. Darmstadt, vornweg der Herrngarten, war damals über die Landesgrenzen hinaus berühmt für seinen breit aufgestellten Schwarzmarkt an Betäubungsmitteln. Das Jugendhaus „huette“ in der Kiesstraße galt als „Hasch-Mekka“ – und im studentischen Schlosskeller wurde wenig verborgen konsumiert und gedealt. Letzterer schloss 1974 wegen Drogenexzessen und Gewaltdelikten, wurde 1977 aber wieder eröffnet und erfreut sich bis heute großer Beliebtheit.

In einem kleinen Zeitfenster – von 1968 bis 1971 – erlangte das „Underground“ unweit der Schulinsel im Johannesviertel Kultstatus. Im Gewölbekeller, der betrieben wurde vom Konzertveranstalter und späteren Urheber des Stadtmagazins „Kulturnachrichten“ Maarten Schiemer, traf sich die Darmstädter Subkultur, aber auch Berühmtheiten wie Rory Gallagher & Band, die nach einem Gig in der Böllenfalltorhalle oder der Otto-Berndt-Halle (heutige Mensa der TU Darmstadt in der Innenstadt) noch unter ihresgleichen verweilen wollten. Auch Uschi Obermaier und Rainer Langhans („Kommune I“) sollen gerne im „Underground“ gefeiert haben, wenn es sie mal gezielt nach Darmstadt verschlug.

„Das Brett“ in der Nähe des Staatstheaters zählt ebenfalls zu den sagenumwobenen Orten jener Zeit, an denen sich Hippies, Krautrocker und Bluesliebhaber*innen zugedröhnt begegneten. Das Drehkreuz am Eingang dieses Kellerklubs ist heute noch im Steinbruchtheater in Nieder-Ramstadt im Einsatz.

Ab 1973 konnte man in der Großraumdiskothek Hippopotamus („Hippo“) in der Holzstraße (praktisch neben der „Krone“) bis in die 1990er-Jahre abzappeln. Ebenfalls rund ging es in US-amerikanischen Diskos – etwa dem Rainbow Club im auch für Deutsche zugänglichen Teil unweit der Cambrai Fritsch Kaserne. Hier blieb es nicht nur beim Kulturtransfer: Etliche Ehen gingen letztlich aus der Zusammenkunft von jungen Darmstädter*innen und US-Soldaten hervor.

Ganz allgemein sind die Siebziger das Jahrzehnt der Dosenmusik – oder wie Manfred Benschen, der Bassist der 1965 gegründeten Rhythm’n’Blues-Band The Roots aus Roßdorf, es mir gegenüber ausdrückte: „Anfang der 1970er wurde es dann schwerer für die Livebands, noch Locations zu finden, da viele auf Disco umstellten. Das hieß bei manchen: Schallplatten auflegen und ein Flashlight installieren, indem man vor einen Scheinwerfer einen Ventilator stellte, in dessen Flügel ein paar Bierdeckel gesteckt wurden.“ Schluss also mit den Tanzkapellen, Vinyl killte die Live-Cover-Events.

Nina Hagen Band im Krone-Gästebuch | Fotos: Ursula + Tili Wenger (Krone-Gästebuch-Polaroids, Dankeschön auch an Gorry Gunschmann fürs Raussuchen!)

 

Ideal im Krone-Gästebuch | Fotos: Ursula + Tili Wenger (Krone-Gästebuch-Polaroids, Dankeschön auch an Gorry Gunschmann fürs Raussuchen!)

 

Weiterhin ist für diese Zeit eine „Methode“ charakteristisch, die sich in den folgenden Jahrzehnten bewähren sollte: Orte wurden gemäß den aktuellen populären Musikszenen erschlossen und umgestaltet. So wurde 1974 aus dem ehemaligen Kino auf der Heidelberger Straße die noch heute existierende Diskothek „Huckebein“ und eine ehemalige Werkhalle in der Adelungstraße verwandelte sich in die Großraumdisse „Lopo’s Werkstatt“ (1979–1993). In einem Teil des verzweigten Katakombensystems unweit der Mathildenhöhe wurde von 1968 bis 1973 eine studentische Disko, der Internationale Studentenkeller (ISK) betrieben. Auch die Darmstädter „Krone“ bekam einen neuen Anstrich: Als Tilman Wenger (1945–2004) und Peter Gleichauf (1941–2008) die Räumlichkeiten 1975 pachteten, wurde sie völlig neu, nämlich als „Multi-Media-Haus“ mit Diskothek, Live-Bühnen, Kino und Kneipe konzipiert. Sie gilt als Mutter aller hiesigen Szene-Clubs, auch wenn sie in ihrer Vielfalt und in ihrem Eigensinn einzigartig bleiben sollte. Die Bedeutung der „Krone“ für die hiesige Musikszene seit den Siebzigern kann kaum genug hervorgehoben werden. Hier versammelten sich in den kommenden Jahrzehnten die Darmstädter Musiker*innen nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne, um gemeinsame Projekte zu schmieden oder sich von Kolleg*innen aus aller Damen Länder inspirieren zu lassen. Hier standen unter anderem Künstler*innen wie Nina Hagen, Jango Edwards, The Wailers, Trio, Nena, BAP oder Eric Burdon auf den Brettern im ersten Stock des einzigen Altstadtgebäudes, das die Brandnacht 1944 überstanden hat.

 

Das berühmte Logo der Goldenen Krone, die „Kronen Emma“, wurde vom Darmstädter Grafiker Claudius Posch (1947–2013) geschaffen. | Grafik: Claudius Posch

 

Mit dem sogenannten „Deutschen Herbst“ (1977) ging eine folgenreiche Zäsur einher: Die Ernüchterung im linksalternativen Milieu angesichts der RAF-Morde verwandelte viele politische Energien in soziokulturelle. Die Bewegungen aus dem Umfeld der Studentenproteste wurden „soziokulturalisiert“ – gemäß der Devise „Raus aus der Hochschule, rein in die Kultur“. Einige Akteure im Umfeld der Spontis und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) wechselten ins Lager der Kulturschaffenden mit dem Ziel, die hiesige Kultur sukzessive zu politisieren. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir erzählen sie im nächsten Kapitel.

 

Gut recherchierte Darmstädter Kulturgeschichte

„Von Beat bis Eurodance – Die Rock- und Popszene am Woog“: So ist das Kapitel überschrieben, das Gösta Gantner, der Autor dieser retrospektiven Artikelserie im P Magazin, zum Buch „Von der Residenzstadt zur Wissenschaftsstadt 1914–2019: Ein Jahrhundert Darmstadt – Band 1: Kunst, Kultur und Kirche“ beigesteuert hat. Der 504 Seiten starke Sammelband ist im Januar 2020 im Justus von Liebig Verlag erschienen, herausgegeben im Auftrag der Wissenschaftsstadt Darmstadt von Peter Engels, Klaus-Dieter Grunwald und Peter Benz. Für 39,80 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN: 978-3-87390-432-3).

 

Her mit Euren Erinnerungen!

Weil viele P-Leser*innen an der hiesigen Musikszene Anteil nehmen und nahmen, interessieren uns Eure Bilder von Live-Konzerten, Festivals oder sonstigen Happenings in Darmstadt (von 1950 bis heute): Schickt uns Euer Lieblingsbild mit kurzer Beschreibung an redaktion@p-verlag.de. Wir sind gespannt!