Summernight Open Air | Foto: Karl Reiß

 

Es wird kälter, und das kulturelle Leben friert ein. In Zeiten der Pandemie richten wir unseren Blick zurück auf musikalische Entwicklungen der letzten 70 Jahre in Darmstadt, die ähnlich viral gingen wie Covid-19. Gösta Gantner lässt einige Sternstunden der Darmstädter Sub- und Popkulturszene aufleben.

Folge 3: Die 80er-Jahre in Darmstadts Rock- und Popszene

Die Welt rüstete auf, der Kalte Krieg tobte. Leicht lassen sich Parallelen zu heute finden und doch könnten die Unterschiede kaum größer sein: In den 80er-Jahren setzten sich Darmstädter Kulturakteure, politische Initiativen und die Studierendenvertretungen der hiesigen Hochschulen nachdrücklich für friedenspolitische Belange ein. Höhepunkte dieser Aktivitäten war sicherlich das Großereignis „Künstler für den Frieden“ 1983. Auf diesem Kongress und Festival spielten auf neun Bühnen über 40 Musikgruppen. Die Deutsche Bundesbahn organisierte sieben Sonderzüge aus dem süddeutschen Raum.

Die Politisierung des kulturellen Lebens schlug sich auch in der Gründung des soziokulturellen Zentrums Bessunger Knabenschule im Jahr 1983 nieder. Hier stehen Räumlichkeiten für eine Kinderwerkstatt, für Jugendarbeit und interkulturellen Austausch zur Verfügung. Im Keller wurden acht Bandproberäume geschaffen – ein Mangelgut in Darmstadt; andere Kellerräume werden für private Partys und kleine Konzerte genutzt. Größere Musikkonzerte, Theater- und Kleinkunstveranstaltungen finden in der ehemaligen Turnhalle statt. Die Knabenschule versteht sich als Gegenpol zu kommerziellen Einrichtungen und ist im linksalternativen Milieu zu verorten. Daran dürfte der rastlose Jürgen Barth nicht ganz unschuldig sein, der nach stürmischen Jahren in der Studentenbewegung für die „Grünen“ (zwischenzeitlich für „Uffbasse“) auf kommunalpolitischer Ebene aktiv war und ist. Gemeinsam mit Bernd Breitwieser prägte er das bis heute florierende Kulturzentrum nachhaltig.

Grafik: Stadtarchiv Darmstadt (Ehemalige Bessunger Knabenschule)

 

Grafik: Stadtarchiv Darmstadt („Künstler für den Frieden“)

 

Golden Summernights und Darmstädter Rockwettbewerbe

Trotz und wegen dieser milieuspezifischen Entwicklungen kommt Rock- und Popmusik in den Mittelschichten an, sie wird in den 80ern zu Mainstream. Was lange Zeit als abtrünnige Jugendsubkultur galt und von den gesellschaftlichen Eliten hierzulande verachtet, belächelt oder ignoriert wurde, erobert fortan die bürgerlichen Schichten. Großveranstaltungen wie die Golden Summernight Concerts unter freiem Himmel im Böllenfalltorstadion – 1981 mit Foreigner, Kansas, Blue Öyster Cult, Motörhead sowie 1983 mit The Police, UB 40, Kajagoogoo, Joan Jett und Gianna Nannini – zeugen davon.

Auch die Kulturförderung durch die Stadt Darmstadt setzte Anfang der 80er-Jahre in diesem musikalischen Segment ein. Neben von der Stadt organisierten Konzerten wurden Startchancen für die freie Musikszene eröffnet. Dazu zählte die Finanzierung von Equipment, Licht- und Tontechnik etwa in der Bessunger Knabenschule und die Beratung von Künstler*innen. Außerdem wurden Übungsräume und Sampler mit Songs verschiedener Musikgruppen aus der Region gefördert. Der erste Darmstädter Rockwettbewerb namens „Rock-Szene Darmstadt ’86“ mit Preisgeldern in Höhe von insgesamt 24.000 D-Mark wurde großteils von der Sparkasse Darmstadt finanziert. Beworben hatten sich 87 Gruppen aus Darmstadt und Umgebung, das Finale mit zehn Bands wurde am 30. Januar 1987 in der Bessunger Turnhalle ausgerichtet. Gewinner war Clitch. Insgesamt wurde dieser Preis fünfmal vergeben. 1988 gewann One Word Up, 1990 Crazy ‚bout Kinski, 1993 Waste the Taste und 1996 Phunk M.O.B.

 

Foto: Karl Reiß

 

 

Lopo’s Werkstatt | Foto: Jürgen „JoJo“ Rellig

 

Lopo’s, Eledil und Smuggler’s Inn

Die 80er waren das Jahrzehnt von Lopo’s Werkstatt (1979–1993). Neben Diskoabenden gab es feinste Livemusik, hier traten namhafte Künstler*innen wie Hot Chocolate, Joe Cocker, Uriah Heep, BAP, Fehlfarben – und fast auch Depeche Mode (siehe „Rischdisch (un)wischdisch“) – auf. Vor den Toren Darmstadts wurde 1980 das Steinbruch-Theater in Mühltal eröffnet. Ab 1988 bekamen im Eledil in der Innenstadt eher abseitige und gelegentlich auch innovative Rockgruppen eine Wirkungsstätte. In diesem ehemaligen Sauna-Club wurde die Bühne zumeist im Schwimmbad-Rund installiert. Auch das Smuggler’s Inn gehörte zu den beliebten Clubs, wo US-amerikanische GIs und die Darmstädter*innen gemeinsam feuchtfröhliche Abende bei „Rummel“-Bier, so der ehemalige Name der Darmstädter Brauerei, verbrachten.

Auch im Blätterwald rauschte ein neuer Wind: Im April 1983 erschien erstmals das Darmstädter Kulturmagazin „Die Klappe“. Zwar lag der Schwerpunkt – nomen est omen – anfangs auf Filmkritiken und dem Kinoprogramm, aber Musikveranstaltungen und Bands wurden ebenso in dem Monatsmagazin vorgestellt, das musikalische Inhalte stetig ausweitete, nach zehn Jahren aber dennoch eingestellt wurde.

Seit 1988 wagen The Dass Sägebett gerne auch ins Absurde abdriftende Eigenkreationen und Auftritte. Eines ihrer ersten Konzerte absolvierten sie auf einem Schulfest am Gymnasium und Kolleg Marienhöhe – einen Tag vor der Verleihung der Abiturzeugnisse. The Dass Sägebett hatte wohl viele Anwesende so verschreckt, dass Sänger Hardy Zech noch kurzfristig von der feierlichen Zeugnisübergabe seines Jahrgangs ausgeschlossen wurde. Den P-Leser*innen dürfte der Schlagzeuger dieser dadaistischen Combo weitaus vertrauter sein: Gerald Wrede wirkt außerdem als P-Kolumnist (siehe Seite 96 in dieser Ausgabe), Komponist und Produzent bis heute auf furiose Weise in Darmstadt. Seit 2013 betreibt er den unbedingt empfehlenswerten Plattenladen „Musik als Hilfe“ in der Pallaswiesenstraße.

Foto: Die Arschgebuiden & Freunde (Flyer „Metzgers Darmstadt“)

 

Punk provoziert und bereichert Darmstadt

Während die Friedensbewegung insbesondere mit Folk-Musik und Liedermacher*innen in Verbindung stand, tauchte Ende der 70er eine neue Strömung, der Punk, auch in Darmstadt auf. Zu Zeiten der Kommerzialisierung und Egalisierung ehemals subkultureller Nischenmusik bot Punk neue Ausdrucksweisen, sich vom Mainstream abzugrenzen. Er wurde zum Inbegriff einer antibürgerlichen und fundamentalkritischen Einstellung gegen Fremdbestimmung – sei sie politisch, ökonomisch oder kulturell konnotiert.

Mitte der 80er-Jahre ließen sich schätzungsweise zehn Darmstädter Bands diesem Genre zuordnen. Sicherlich waren die in ganz Südhessen zu einem Politisierungsschub führenden Proteste um die Startbahn West auch für die Darmstädter Punkszene von Bedeutung. Zumindest genauso wichtig war der Kampf gegen neonazistische Gruppierungen und Umtriebe, der nicht nur musikalisch, sondern durchaus auch mit der Faust bei Konzerten und im öffentlichen Raum ausgetragen wurde. Die Szene hat damit keinen geringen Beitrag zu einem weltoffenen, antirassistischen Darmstadt geleistet.

Die Darmstädter Kultpunkband Arschgebuiden (1982–1996) belegte beim stadtweiten Rock-Wettbewerb 1988 sogar den 3. Platz. Eine ihrer öffentlichkeitswirksamsten Provokationen bestand darin, eine Podiumsdiskussion im Rahmen der Ausstellung „Entartete Kunst“ (1990) im Foyer des Staatstheaters zu sprengen: Die Band baute bei laufender Veranstaltung im Auditorium ihre Instrumente und Verstärker auf, griff in die Saiten, löste allgemeines Entsetzen aus und verschwand, bevor die Polizei eintraf. Wie das Flugblatt zu dieser Aktion verdeutlicht, verbanden die Arschgebuiden ihr Auftreten mit entschiedener Kritik an der städtischen Kultur- und Sozialpolitik. Getreu dem Motto „Alles muss man selber machen“ wagten sich einige aus dem Punkmilieu in kommunalpolitische Gefilde vor. Aus dieser Szene sollten einer der legendärsten und großherzigsten Oberbürgermeisterkandidaten in Darmstadt hervorgehen und sich die bis heute im Stadtparlament vertretene Wählervereinigung „Uffbasse“ herausschälen – aber das ist eine Geschichte für die kommenden Jahrzehnte.

 

Gut recherchierte Darmstädter Kulturgeschichte

„Von Beat bis Eurodance – Die Rock- und Popszene am Woog“: So ist das Kapitel überschrieben, das Gösta Gantner, der Autor dieser retrospektiven Artikelserie im P Magazin, zum Buch „Von der Residenzstadt zur Wissenschaftsstadt 1914–2019: Ein Jahrhundert Darmstadt – Band 1: Kunst, Kultur und Kirche“ beigesteuert hat. Der 504 Seiten starke Sammelband ist im Januar 2020 im Justus von Liebig Verlag erschienen, herausgegeben im Auftrag der Wissenschaftsstadt Darmstadt von Peter Engels, Klaus-Dieter Grunwald und Peter Benz. Für 39,80 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN: 978-3-87390-432-3).

 

Her mit Euren Erinnerungen!

Weil viele P-Leser*innen an der hiesigen Musikszene Anteil nehmen und nahmen, interessieren uns Eure Bilder von Live-Konzerten, Festivals oder sonstigen Happenings in Darmstadt (von 1950 bis heute): Schickt uns Euer Lieblingsbild mit kurzer Beschreibung an redaktion@p-verlag.de. Wir sind gespannt!