Foto: Jan Ehlers

Ich hätte Gudrun Hegen wahrscheinlich nie kennengelernt. Dabei wohnen wir nur ein paar Straßen voneinander entfernt, beide in Alt-Bessungen, keine 200 Meter Luftlinie trennen uns. Gudrun Hegen ist 80 Jahre alt, aktiv, lebensfroh, eine charismatische Frau. Getroffen habe ich sie die letzten Monate über mehrmals die Woche, bei der Übergabe geretteter Lebensmittel. Als Fairteilerin. Ohne Corona & Co. hätten sich unsere Wege wahrscheinlich nie gekreuzt. Frau Hegen wäre eine der Personen gewesen, denen ich beim Spaziergang durch die Orangerie freundlich zugenickt hätte, ohne weiter darüber nachzudenken, wie es ihr in der aktuellen Situation geht.

Doch dann las ich von der „Fairteil“-Aktion der Darmstädter Foodsharing-Initiative. Ich hatte mich bereits als Erntehelferin bei verschiedenen Spargelbauern beworben, die nötigen Absprachen mit meinem Arbeitgeber, bei dem ich momentan in Kurzarbeit unbeschäftigt bin, waren getroffen. Aber die Spargelbauern ließen mich warten, erst mal keine Zusage. Das Kurzarbeitergeld reicht, um meine Miete zu zahlen, aber eins habe ich zu viel: Zeit. Also meldete ich mich als Botin für die Fairteil-Aktion. Wenige Tage später fuhr ich das erste Mal mit einer voll bepackten Papiertüte zu einer jungen Familie in die Lincoln-Siedlung. Aber von vorne.

 

Was ist die Fairteil-Aktion?

Normalerweise werden die Lebensmittel, die die Foodsaver der Darmstädter Foodsharing-Initiative etwa von Supermärkten und Bäckereien retten, in drei sogenannte „Fairteiler“ gebracht, an denen sich jeder bedienen darf (wir berichteten im P #72 im März 2015). Diese Fairteiler stehen in Hochschulen und anderen öffentlichen Gebäuden – und mussten deshalb wegen der Corona-Maßnahmen geschlossen werden. Statt sich damit zufrieden zu geben, entwickelten Clara Brossmann und Lars Wolf kurzerhand mit viel Unterstützung ein System, dank dem weiterhin Lebensmittel gerettet und über private Fairteil-Stationen weitergegeben werden können – und zwar an die Menschen, die von der Krise ganz besonders betroffen sind. Etwa, weil sie zur Risikogruppe gehören, oder weil die Krise sie wirtschaftlich hart trifft.

57 Haushalte haben sich bisher auf der Webseite der Fairteil-Aktion registriert, weil sie gerne gerettete Lebensmittel empfangen möchten. 40 weitere Haushalte werden darüber hinaus mitversorgt. Das erledigen neben dem Organisationsteam, den Foodsavern und den Koordinatoren, die die Lebensmittel gleichmäßig unter den sieben privaten Fairteil-Stationen in Darmstadt verteilen, 42 Bot*innen. Eine davon bin ich.

Wenn über unsere Telegram-Gruppe die Info kommt, dass neue Lebensmittel im Fairteiler in meiner Nachbarschaft eingetroffen sind, sprechen wir uns ab, damit wir uns bei der Abholung der Lebensmittel nicht begegnen. Mit Maske, Handschuhen und Gemüsekisten bewaffnet geht es für mich in eine Garage in einem Bessunger Hinterhof, in der ein alter Kühlschrank, ein ausrangiertes Regal und mehrere Tische stehen, in und auf denen sich Lebensmittel aller Art tummeln. Gemüse, das nicht mehr knackfrisch aussieht, aber noch absolut genießbar ist zum Beispiel. Schoko-Osterhasen, die in Supermärkten nicht mehr verkauft werden. Eingeschweißter Käse, der vielleicht das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hat, aber deshalb noch lange nicht in den Müll gehört. Brot vom Vortag. Aussortierte Aktionsware, an der es gar nichts auszusetzen gibt.

 

Zu gut für die Tonne, gut für die Solidarität

Ich schließe das Hoftor hinter mir und fahre in die Lincoln-Siedlung, wo ich eine vierköpfige Familie mit Lebensmitteln versorge. Meine Lieferung kann natürlich keine Grundversorgung ersetzen – aber sie bereichert den Kühlschrank der Familie doch erheblich. Ich stelle die voll bepackte Bananenkiste vor die geschlossene Wohnungstür, die Familie wird sie reinholen, wenn ich wieder weg bin. Wir sprechen uns über SMS ab.

Anschließend fahre ich zurück nach Alt-Bessungen und rufe bei Frau Hegen an. Als ich an ihrem Haus ankomme, steht sie schon im Garten. Eigentlich sollte ich auch ihr die Kiste voller Essen und ein paar nicht mehr taufrische Blumen kontaktfrei vor die Tür stellen – doch über die Zeit stellte sich heraus, dass ein kleiner Plausch in respektvollem Abstand Gudrun Hegen mindestens genauso gut tut wie das Auffüllen ihres Kühlschranks. Durch die Gespräche weiß ich, dass Frau Hegen sich über die Blumen freut, weil sie gerne Ikebana macht. Kürzlich habe ich beim Einkaufen ein Päckchen Hefe für sie mitgenommen, weil ich wusste, dass sie bei ihren letzten Supermarkt-Besuchen keine bekommen hatte. Ihr einziger Sohn wohnt in Amerika, und auch wenn sie ein offener Mensch mit vielen Kontakten ist: Die aktuellen Einschränkungen beeinträchtigen auch ihr Sozialleben sehr.

Darum ist es nicht nur die erneute Erkenntnis, dass wir in unserem Land exorbitant viele Lebensmittel wegwerfen, sprich: verschwenden – mehr als 80 Kilogramm Essen pro Kopf sind das jedes Jahr im Durchschnitt. Sondern es ist auch das Gefühl von Solidarität, von einem Blick über den eigenen Tellerrand, von Sinnhaftigkeit in einer Zeit, in der mein größter Beitrag zur Gesellschaft ansonsten das Zu-Hause-Bleiben ist, für die ich der Fairteil-Aktion dankbar bin.

Gudrun Hegen und ich werden auch nach Corona in Kontakt bleiben. Dann kann ich sie vielleicht auch endlich mal in ihrer Wohnung besuchen und mir von ihrem Leben erzählen lassen – länger als die paar Minuten, wenn ich ihr mit Maske und Handschuhen Lebensmittel vorbeibringe.

 

Fairteilen, Foodsharen, Informieren

Die Fairteil-Aktion ist zeitlich auf die Phase der Corona-Pandemie begrenzt. Sie wird von der „Aktion Mensch“ finanziell unterstützt, aber von einigen fleißigen Händen ehrenamtlich gestemmt. Mehr Informationen über die Aktion und darüber, wie Du selbst mitmachen kannst, findest Du unter fairteilen.eu.

Die Köpfe hinter der Aktion engagieren sich auch nach Corona weiter, um in unserer Stadt Lebensmittel zu retten. Sie gehen dabei über die Symptombekämpfung hinaus: Mit Bildungs- und politischen Initiativen setzt sich Foodsharing Darmstadt gegen Lebensmittelverschwendung und für ein stärkeres Bewusstsein bei den Konsument*innen ein.

foodsharing-darmstadt.de