Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Kulturelle Vielfalt gehört zu Darmstadt wie der Jugendstil – und DJ Kai in der Krone-Disko. Laut Bevölkerungsstatistik 2019 haben 21,1 Prozent der in Darmstadt lebenden Menschen eine nichtdeutsche Nationalität. Das P möchte wissen, wie Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Darmstadt gefunden haben, diese Stadt erleben. Für viele neue Darmstädter:innen ist die erste und größte Herausforderung nach dem Ankommen das Erlernen der deutschen Sprache. Bei vielen gestaltet sich dieser Prozess sehr zäh, oder er bleibt sogar stecken. Warum eigentlich? Was brauchen Menschen, um eine neue Sprache zu lernen und zu leben – und wie kann dieser Prozess erleichtert werden?

„Sprache ist der Schlüssel zu Integration“, sagen Politiker:innen in Deutschland oft und gern. Diese Idee ist so tief im System verankert, dass der bundesweit geförderte, sogenannte Integrationskurs, für den ich als Kursleiterin arbeite, im Grunde genommen nichts anderes ist als ein langer Sprachkurs: 600 Stunden Deutschunterricht umfasst ein Standard-Integrationskurs. Der Unterricht findet fünf Tage die Woche, für vier Stunden am Tag statt, über fast neun Monate. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das großzügigerweise staatliche Mittel für diese Deutschkurse – inklusive meines Honorars – bereitstellt, gibt die Teilnahmebedingungen streng vor. Akribisch geführte Anwesenheitslisten bestimmen die Organisation meiner Arbeit. Fehlen der Teilnehmenden wird nur in bestimmten Fällen geduldet, zum Beispiel wegen der eigenen Hochzeit: maximal zwei Tage. Oder beim Tod des Ehegatten: bis zu fünf Tage – aber nur, wenn die Beerdigung im Ausland stattfindet. Entsprechende Beweise sind natürlich vorzulegen.

Doch trotz des BAMFs löblicher Buchführung klappt das Sprachenlernen bei vielen „neuen Deutschen“ beim ersten Anlauf nicht. Beim „Deutschtest für Zuwanderer,“ der am Ende der 600 Stunden steht, erreichen gerade mal die Hälfte der Teilnehmenden beim ersten Versuch das B1-Niveau der „selbstständigen Sprachverwendung“.

Woran liegt das? Eine Erklärung wäre, dass die Leute es einfach nicht wirklich wollen. Es ist erschreckend, wie das Bild des „faulen Ausländers“ noch als unhinterfragter Stereotyp herumschwirrt. Ich begegne dem häufig persönlich im Alltag, wo ich oft in Gespräche darüber verwickelt werde, wie toll meine Deutschkenntnisse doch seien im Vergleich mit anderen Ausländer:innen. „Sie wissen ja, es gibt Leute hier, die zweimal so lange hier sind wie Sie und noch kaum Deutsch sprechen“, wird mit besorgter Miene geflüstert, als würde die Begegnung mit mir als Bestätigung gelten für das, was man schon immer dachte. Es fühlt sich an, als würde ich in einen geheimen rassistischen Club eingeladen werden.

Mir wird die Rolle der „guten Ausländerin“ zugeschrieben, mitunter aufgrund meiner Deutschkenntnisse. Dass ich das geschafft habe, gilt als Erlaubnis, über „die anderen Ausländer:innen“ zu urteilen. Mit diesem Vergleich fühle ich mich unwohl, da man dabei eine Reihe an Privilegien, biografische Vorteile und Freiheiten ausblendet, die meinen eigenen Spracherwerb erleichterten (ich bin Kanadierin).

Es soll eigentlich jedem klar sein, dass unser Gehirn am besten funktioniert, wenn wir nicht unter akutem Stress stehen. In entspannten Zuständen, vor allem unter Einfluss von positiven Emotionen, sind wir aufnahmebereit, kreativ, und kooperationsfähig. Unter Stress setzen sämtliche Fähigkeiten aus, und unser System wird auf das Notwendige eingestellt. Bedingungen wie extremer Zeitdruck, gesellschaftliches Misstrauen und Existenzangst – die den Alltag vieler neuer Einwanderer:innen prägen – sind also wahrscheinlich nicht die besten Bedingungen, um sich mit Freude in einen Lernprozess zu stürzen. Begegnungen mit Leuten, die mit gehobenen Augenbrauen andeuten, dass wir unser Deutsch echt verbessern müssten, helfen mit Sicherheit auch nicht.

Bereit, sich richtig doof vorzukommen

Um eine Sprache zu lernen, muss man bereit sein, seine Komfortzone ständig und durchgehend zu verlassen. Man muss bereit sein, sich richtig doof vorzukommen, nie das sagen zu können, was man eigentlich sagen will, und dauernd auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Verständlich, dass Erwachsene – obwohl aus sprachwissenschaftlicher Sicht der Erwerb neuer Sprachen bis ins hohe Alter vollkommen möglich ist – sich damit schwertun. Kinder haben uns etwas voraus: Sie schämen sich nicht für ihre Fehler und sie sehen alles als ein Spiel.

Als ich nach Deutschland ausgewandert bin, war ich 21 Jahre alt – und ALLES war ein Spiel. Ich habe mir dieses Land, diese Sprache ausgesucht, nicht weil ich etwa nicht dortbleiben konnte, wo ich aufgewachsen bin oder in einem anderen Land kein Visum bekommen konnte, sondern weil ich dachte (so ungefähr in diesem Wortlaut): „Ach, es wäre doch mal ganz lustig, in Deutschland zu leben.“ Häufig fragen mich Teilnehmer:innen im Deutschkurs verwundert: „Warum hast Du Kanada verlassen? Es ist doch alles gut dort.“ Und ich realisiere, welche Ungerechtigkeit unsere Erfahrungen voneinander trennt. Den Kopf frei zu haben, um sich auf eine neue Kultur einlassen zu können, ist ein großer Luxus.

Dieser erste, magische Moment …

Sprachenlernen lohnt sich. Dieser erste, magische Moment, wo du einen vollständigen Satz aussprichst, ohne darüber nachzudenken („Boah, dieses Verb war richtig konjugiert!“) … Oder wenn du feststellst, dass die Sprache im Radio nicht mehr Kauderwelsch ist, sondern einzelne Wörter, und du verstehst, worum es geht. Oder das erste Mal, wenn du eine komplette Verabredung mit einem Native Speaker verbringst, ohne in eine andere Sprache zu wechseln. Für diese Momente ist es die ganze Anstrengung wert. Mit einer neuen Sprache wachsen dir neue Gedanken, die du vorher nicht denken konntest, Freundschaften, die vorher nicht möglich waren, Musik und Bücher und Gedichte, die sich dir eröffnen und dir Zugang gewähren.

Wenn das Sprachenlernen aber in Kombination mit einer Migration stattfindet, gehen all diese Gewinne mit Verlusten einher. Während einem neue Persönlichkeitsanteile wie neue Gliedmaßen wachsen, müssen alte, vielleicht geliebte Aspekte des Selbst losgelassen werden. Im Laufe eines Lebens nehmen wir neue Aspekte dazu, lassen alte los – vielleicht entdecken wir sie irgendwann wieder. Sich eine neue Sprache anzueignen, als neue Schichten der eigenen Persönlichkeit, ist ein langsamer Wachstumsprozess – und wie jedes Wachstum ist es mal schmerzhaft und verläuft in der Regel nicht in planbaren Zeiträumen.

Es ist super und richtig, dass Deutschland ein umfangreiches Sprachlernangebot für Migrant:innen zur Verfügung stellt, und natürlich kann und soll man erwarten dürfen, dass Menschen, die hierherkommen, sich auf das Leben hier einlassen. Aber man kann Wachstum nicht erzwingen, sondern nur dazu einladen. Statt mehr Forderungen brauchen wir Räume, in denen Menschen als Menschen abgeholt werden, wo die Lust entsteht, etwas Neues wachsen zu lassen. Danach, da bin ich mir sicher, würde die Sprache von ganz allein kommen. Bis dahin fülle ich Anwesenheitslisten aus.

 

From Canada to Heinertown

Manchmal hat man an einem Ort direkt das Gefühl, dass man willkommen ist. So war es für mich, als ich 2010 aus Kanada für ein Auslandssemester nach Darmstadt kam. Aus diesem einen Semester ist ein Studium geworden – und mittlerweile ist Darmstadt mein Zuhause. Als Ausländerin will ich mich in meiner Stadt zugehörig fühlen, unabhängig davon, wo ich herkomme oder wie lange ich vielleicht bleiben werde. Als Leiterin von Integrationskursen frage ich mich, was es eigentlich heißt, integriert zu sein. Integration ist schließlich kein Ziel, das erreicht werden kann, sondern vielmehr ein Prozess – ein Prozess in Richtung einer vielfältigeren, multikulturellen Gesellschaft.

melanielipinski.com