Aus dem Darmstädter Stadtbild ist die Stadtkirche nicht wegzudenken. So manch einem Neuankömmling hat ihr Turm in den ersten Wochen bereits als Orientierungspunkt gedient. Und sie ist nicht nur als Ort für Gottesdienste, sondern auch als Kulturkirche mit vielfältigem Veranstaltungsangebot bekannt. Regelmäßig finden hier Lesungen, Kunstprojekte und Jazzkonzerte statt. Doch wie sieht es eigentlich hinter den Kulissen aus? Welche Geheimnisse verstecken sich an diesem Ort und was kann uns die Kirche über die Stadtgeschichte erzählen? P-Redakteurin Maya-K. Schulz hat an einer Führung durch die Stadtkirche teilgenommen und sie von unten bis oben ganz neu kennengelernt.
Die hölzernen Bankreihen knarzen unter dem Gewicht der rund 30 Besucher:innen, die die Stadtkirche an diesem Sonntag besuchen. Allerdings nicht für den Gottesdienst, sondern um sich die Kirche einmal ganz genau anzuschauen – von den Schuhspitzen bis zum Haaransatz sozusagen. Prof. Dr. Ralf Köbler ist nicht nur stellvertretender Vorsitzender des Kirchenvorstands (und Präsident des Landgerichts Darmstadt), sondern auch derjenige, der heute von der Gruft bis auf den Turm führen wird.
Stilbrüche und Zweckentfremdung
Gespanntes Schweigen erfüllt die Kirche, bis Köbler zu erzählen beginnt. Von den Anfängen der Stadtkirche als Kapelle im 14. Jahrhundert, als Darmstadt nur aus einer Handvoll Bauernhöfen bestand. Über ihre Gründung als katholische Kirche, bis hin zu ihrer Zweckentfremdung als Pest-Lazarett im 18. Jahrhundert, als Wahllokal während der Revolution 1848/49 und als Teststation während der Corona-Pandemie. „Die Stadtkirche hat schon viel erlebt“, fasst Köbler treffend zusammen. Nüchtern fügt er hinzu: „Sie ist zwischendurch auch mal abgebrannt, wie das so ist bei solch jahrhundertealten Gebäuden.“ Das war Ende August 1944, als die Stadtkirche infolge eines Luftangriffs ausbrannte. Die Kirche, wie wir sie heute kennen, ist also eine Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur der Chorraum hinter dem Altar sowie der untere Teil des Turms überstanden den Luftangriff wie durch ein Wunder.
Zurück ins Heute. Das große 20 Kilo schwere „Lichtkreuz“ aus Acryl, das von der Decke herabhängt, dreht sich langsam. Es sei ein Überbleibsel einer vergangenen Ausstellung, erklärt Köbler. Weil alle es mochten und Geld gesammelt wurde, damit das Kreuz bleiben könne, hänge es nun schon seit ein paar Jahren in der Stadtkirche. „Ein absoluter Stilbruch“, so Köbler, „aber es passt zu den anderen Stilbrüchen hier.“
Wer jetzt befürchtet, die Führung durch die Stadtkirche bestünde aus einem Frontalvortrag, der kann beruhigt aufatmen: Langes Sitzen ist hier nicht. Nach wenigen Minuten bittet der Kirchen-Guide die gesamte Gruppe, ihm hinter den Altar zu folgen, damit er die Epitaphe im Chorraum zeigen kann. Ein Epitaph ist im Grunde genommen „nichts anderes als ein Grabstein“, erklärt Köbler. Und genau das macht seinen Vortrag so angenehm: Seine unkomplizierten Erklärungen der umfangreichen Geschichte und der architektonischen Details der Stadtkirche, die er hier und da mit einer Prise Humor versieht. Es ist leicht, ihm zuzuhören.
Im Chorraum befindet sich das Grabmal von Landgraf Georg I. (1547–1596). Eine Schlüsselfigur in der Stadtgeschichte, denn er machte Darmstadt zu einer Residenzstadt, wodurch Wachstum und Blüte der Stadt in Schwung kamen. Auf einmal verändert sich Köblers Stimme. Geheimnisvoll sagt er: „Nun zeige ich Ihnen, wo Georg heute wohnt.“ Ein aufgeregtes Raunen geht durch die Gruppe. Jetzt kommt das, was für viele heute vielleicht das Spannendste ist: Der Gang durch die unterirdische Gruft.
Ein Blick in die Vergangenheit
Köbler öffnet eine etwa türgroße, hölzerne Bodenluke im Chorraum. Heute ist die Gruppe der Besucher:innen zu groß und wird aufgeteilt, denn unten ist es eng. Treppenstufen aus Sandstein führen in die Gruft hinunter. Dort hinunterzuschauen, fühlt sich an wie geradewegs in die Vergangenheit zu blicken. Die Dunkelheit gähnt den Besucher:innen förmlich entgegen. Nur ein DIN-A4-Zettel mit der Aufschrift „Vorsicht, Kopf“, der an einem der niedrigen Deckenbalken am Eingang zur Gruft hängt, erinnert an die Jetzt-Zeit. Und so betritt die Gruppe um Köbler die Gruft genauso staunend wie Lucy Pevensie das Land Narnia durch ihren Kleiderschrank.
Der letzte Großherzog Ernst Ludwig hatte 1910 angeordnet, die Särge der verstorbenen Großherzöge und ihrer Gattinnen aus der Gruft der Stadtkirche in das neu errichtete Mausoleum auf der Rosenhöhe zu verlegen. In der Stadtkirchengruft halten seitdem nur noch die Landgrafen samt Ehefrauen sowie zwei als Gäste in Darmstadt verstorbene Adlige die Stellung. Die Luft ist kühl und etwas muffig, wie im Keller eben. Die Gruft ist in zwei Gewölbekammern unterteilt. In der hinteren stehen die Särge Georgs I. und seiner beiden Frauen Magdalena und Eleonore sowie die seines Nachfolgers Ludwig V. und dessen Gattin Magdalene von Brandenburg. Die Wände und niedrige Decke in dieser Gewölbekammer sind stuckverzierter als eine Altbauwohnung in Hamburg-Eimsbüttel. Auf Ludwigs Gedenktafeln wurde mit Lobpreisungen nicht gerade gegeizt. Dort heißt es zum Beispiel: „Von Gottes Gnaden auserkorn / ein Fürst zu Hessen hochgeborn“ oder „Ein Fräulein warb hieß Magdalen / von Brandenburg ihm sehr bequem“. Die Särge stehen hier dicht an dicht und auch die Besucher:innen stehen so dicht zusammen, dass sie aufpassen müssen, nicht gegen einen der Särge zu stoßen. „Sind die Verstorbenen dann auch direkt hier unten verrottet?“, fragt jemand. „Ja“, bestätigt Köbler schlicht. In einer Gruft gibt es keine makabren Fragen.
Die Herzen zweier Prinzen
In der vorderen Gewölbekammer stehen die Särge weiterer Landgrafen. Ihre Namen aufzuzählen, würde den Umfang dieses Texts sprengen, aber wer möchte, kann sie alle in Köblers Kirchenführer nachlesen (wie auch alle, zum Teil aus dem Lateinischen übersetzten Grabinschriften übrigens). Auf dem Boden fällt eine hölzerne Luke auf, die ein bisschen aussieht wie die, die der dreiköpfige Hund Fluffy in „Harry Potter“ bewacht. Unter ihr liegt ein vermeintlicher geheimer Fluchtweg zum Schloss. Ob es diesen Weg allerdings tatsächlich wirklich gegeben hat, konnte nie belegt werden, wie Köbler betont. Es gibt aber noch eine andere Besonderheit in dieser Kammer. Von der Decke hängen zwei Metallkapseln herab. Sie enthalten die Herzen zweier Darmstädter Prinzen: Prinz Philipp, Feldmarschall und Gouverneur von Mantua, sowie Prinz Georg von Hessen-Darmstadt, kaiserlicher General der Habsburger, der es bis zum Vizekönig von Katalonien brachte. Prinz Philipp wurde nach seinem Tod 1736 in Wien bestattet. Die Trennung von Corpus und Herz war seit dem Mittelalter eine gängige Praxis im Falle eines Ablebens in der Fremde. Längere Aufbewahrung und Transport des Leichnams waren kaum möglich, wodurch oft nur das Herz konserviert und in die Heimat gebracht wurde. So war es auch bei Philipp, dessen Herz nun seit rund 288 Jahren von der Gruftdecke baumelt. Die Geschichte von Prinz Georgs Herz ist noch spannender: Als dieser 1705 während einer Eroberung bei Barcelona starb und sich sein Darmstädter Sekretär auf den Weg machte, um sein Herz abzuholen, geriet Letzterer in französische Gefangenschaft. Erst sechs Jahre später gelangte das Herz im Tausch gegen 20 französische Seeoffiziere wieder zurück nach Darmstadt.
Stufe für Stufe tritt nun auch die zweite Gruppe wieder ins Tageslicht des Chorraums. Die Gruft unter dem Chorraum ist nur eine und die älteste von ursprünglich vier großen Grüften unterhalb der Stadtkirche. Die übrigen Grüfte, die wahrscheinlich noch mehrere hundert Hofbeamte und Kirchenleiter „beherbergen“, sind heute nicht mehr zugänglich.
Von Löwen und Stufen
Nach ganz unten soll nun ganz oben folgen: Es geht auf den Turm der Stadtkirche. In der Vorhalle zum Turm erklärt Köbler den aufmerksam Zuhörernden das hier an der Decke prangende Wappen. Es stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist damit das älteste Vorkommen des Darmstädter Stadtwappens. Die Lilie ist klar zu erkennen und auch der Löwe ist, nun ja, vorhanden. Er sieht allerdings nicht wirklich wie ein Löwe aus, sondern eher wie ein „Seehund mit Tatze und Drachenschwanz“, wie Köbler treffend beschreibt. Die Antwort auf die Frage, warum der Löwe auf dem Wappen so merkwürdig aussieht, ist simpel: Es wusste damals schlicht keiner, wie genau Löwen aussehen.
Der Glöckner von Darmstadt
Köbler betont: Für Betroffene von Höhenangst ist der Aufstieg auf den Turm womöglich nichts. Schließlich ist die Turmspitze mit einer Höhe von 63 Metern der dritthöchste Turm Darmstadts – nur der Turm der Sankt-Elisabeth-Kirche im Martinsviertel und der Schornstein des Müllheizkraftwerks sind höher. Ein paar tapfere Berg-, äh, Treppensteiger:innen machen sich trotzdem mit Köbler auf den Weg nach oben. Die erste Etappe besteht aus einer steinernen Wendeltreppe. An ihrem Ende geht’s allerdings erst richtig los. Denn hier schließt eine schmale, steile Holztreppe an, die nach Ausbrennen des Turmes im Krieg provisorisch errichtet wurde. „Wie Sie wissen, Provisorien halten am längsten“, meint Köbler, der schon die ersten Stufen überwunden hat. Während der Rest der schrumpfenden Gruppe ihm vorsichtig folgt, fährt er fort: „Ich bin früher immer an Silvester um Mitternacht oben im Glockenturm gewesen. Wenn die Glocken schlagen, dann bewegt sich dort alles!“
In einem Zwischenstockwerk legt Köbler eine kurze Erzählpause ein. Von 1628 bis 1870 lag hier die Wohnung des Türmers. Dieser war für Küsterdienst und Musik bei Festlichkeiten verantwortlich und übernahm gleichzeitig die Rolle des Glöckners, Feuerwächters und Turmbläsers. Auf dieser kleinen Zwischenetage wohnte der Türmer allerdings nicht allein, sondern mit seiner Familie. Kaum vorstellbar!
Darmstädter Wimmelbild
Endlich treten die Besucher:innen durch eine schmale Tür auf die quadratische Aussichtsplattform, die einmal um den Turm herumführt. Aus der Stadt dringt leise Kirchengeläut herauf. Das Schloss, der Marktplatz davor und der Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe im Nordosten – alles liegt in mittäglichem Sonnenschein. Geradeso lugt der Lange Ludwig aus dem Meer aus Dächern heraus. Unübersehbar ist hingegen der graue, klotzartige Bau der Hochschule. Am Horizont zeichnet sich hinter den golden glänzenden Kuppelspitzen der Waldspirale die Frankfurter Skyline ab. Das geschäftige Treiben in den Straßen von hier aus zu beobachten, ist wie ein Wimmelbild anzuschauen. Es ist ein Moment des Innehaltens und des Von-Außen-Anschauens. Gleich wird Köbler die Besucher:innen wieder vom Turm hinunterführen und sie werden sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Bis sie wieder Teil des Wimmelbilds geworden sind, das sie eben noch aus der Vogelperspektive betrachtet haben.
Noch mehr Details und Führungen
Noch mehr Hintergründe und Fakten rund um die Stadtkirche findet Ihr in „Stadtkirche Darmstadt – Ein kleiner Kirchenführer“ (2020) von Dr. Ralf Köbler.
Die Führung „Kirche-Gruft-Turm“ ist kostenlos, über eine Spende freut sich die Stadtkirche aber. Sie findet an folgenden Sonntagen jeweils um 11.30 Uhr statt: am 6.10., 3.11. und 1.12. Mehr Infos online unter:
stadtkirche-darmstadt.de/veranstaltungen
Gerade erschienen: der 10. Stadtkirchenkrimi
Noch auf der Suche nach Herbstlektüre? In „Dem Ludwig sein Darmstädter Tod“ dreht sich alles um das mysteriöse Verschwinden des Küsters. Der zehnte Krimi rund um die Stadtkirche von Dr. Ralf Köbler ist für 10 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-00-079874-0). Der Erlös wird in die Modernisierung der Orgel investiert. Premierenlesung ist am 30.11. um 19 Uhr in der Stadtkirche, zum Auftakt der „Darmstädter Krimilust 24/25“.