Foto: Jan Ehlers

Genau 240 Tage lagen zwischen dem letzten Heimspiel mit der alten Gegengerade und dem ersten Heimspiel mit der noch unvollendeten neuen. 4.300 Lilienfans fluteten am 04. August die neuen Stehplätze an alter Stelle. Ein Wiedersehen, das alle so sehr herbeigesehnt hatten, das aber einige auch ernüchtert zurückließ – unter anderem mich.

„Die Sonne scheint, die Menge tobt und wartet auf ein Lilientor, olé, olé, ola!“ Genau so hatte ich es mir zum Heimspielauftakt gegen Holstein Kiel ausgemalt. Und genau so sollte es kommen. Das Premierentor ließ gar nicht so lange auf sich warten. Nur elf Minuten waren gespielt, ehe eine feine Koproduktion von Marvin Mehlem und Tim Skarke das Bölle erstmals jubeln ließ. Der 2:0-Erfolg gegen die Norddeutschen war aber im Endeffekt nur eines von zwei großen Themen an diesem Nachmittag. Genauso wichtig war mir und 4.299 anderen Lilienfans der erstmalige Bezug der Stehplatzränge auf der neuen Gegengerade. Wie würde es sein, in der alten neuen Heimat? Genau so wie früher, nur mit mehr Sichtbeton? Oder doch anders?

Revier abstecken

Schon auf dem Weg zum Bölle wurden mir Tweets in meine Timeline gespült, auf denen erste Wellenbrecher mit Aufklebern zu sehen waren. Das Revier wollte offenbar frühzeitig abgesteckt sein. Bevor ich mich dann eine Dreiviertelstunde vor Anpfiff auf die Gegengerade begeben wollte, hieß es erst noch Kaltgetränke ordern. Am provisorischen Getränkestand war dann wieder zu bestaunen, dass sich manche Dinge wohl nie ändern werden. Das Erfolgsgeheimnis einer effizienten Getränkeausgabe scheint dem Caterer auch nach vielen Jahren noch genau das geblieben zu sein: ein Geheimnis! Okay, dann eben zeitverzögert in den Block und die erste Überraschung: Wo steht denn bitte der Rest meiner Truppe? Gar nicht so leicht zu überblicken. Also einige Stufen heruntergestapft und irgendwann fündig geworden.

Altbekannte Nachbarn

Dann mal rein in die Reihe. Oha, die Stufen sind höher, aber schmaler als auf unserer alten Gegengerade. Dafür ist der Blick auf das Spielfeld gut. Kein Zaun behindert die Sicht. Kurz den Blick kreisen lassen: Ah, da sind einige altbekannte Gegengeradengesichter, dort ist der vertraute Asterix-Doppelhalter. Alles wieder im Lot. Im Rückrundenexil hatte ich auf der Nord immer wieder vertriebene Gegengeraden-Aficionados gesehen. Auch sie schienen dort zu fremdeln. Und ich war regelmäßig erstaunt, dass sie körperlich im Stande waren, sich hinzusetzen. Zuvor hätte ich es für ein Naturgesetz gehalten, dass sie ihr Dasein nur stehend oder gehend fristen.

Flamenco?

Nun standen sie alle wieder entlang der Seitenlinie. Ein gutes Gefühl. Auch auf den Gesichtern der sich inzwischen warmmachenden Lilienspieler war beim Blick auf die Gegengerade Freude zu erkennen. Doch da war etwas, das mich störte: Je näher der Anpfiff rückte, desto enger wurde es. Und mit der Mannschaftsaufstellung war es dann richtig eng. Es dauerte nicht lange, da stieß mein Vordermann erstmals gegen meinen Bauch. Etwas, das sich beständig wiederholen sollte. Zuckte er seinen Ellenbogen nach hinten: Treffer! Beugte er sich nach vorne: Touché! Drehte er sich um: Strike! Wollte ich ihm beim Klatschen nicht meine Hände um die Ohren hauen, dann war etwas Körperakrobatik gefragt. Ergo: Arme seitlich versetzt auf Kopfhöhe zusammenführen. Ein wenig wie beim Flamenco. Und in der Pause? Da machten es sich um mich herum einige Fans auf den Stufen bequem. Das gehörte schließlich bis vor einem Dreivierteljahr zum Halbzeitprogramm. Auch ein unerschrockenes Mitglied aus meiner Gruppe tat es, stand aber sofort wieder auf, als sie zu wenig Platz vorfand. Mit dem Ergebnis, dass es sich ihre Vorderfrau auf ihrem Fuß bequem machte … ohne es zu merken. Wollten andere Fans zum Getränkestand oder mal austreten, dann gab es kaum ein Durchkommen. Hinter mir der Wellenbrecher, vor mir der Fan mit den ausladenden Bewegungen und neben mir meine Begleitung, auf deren Fuß eine andere Frau saß.

50 Zentimeter

Ein halber Meter, so hatte es vorab von den Lilien geheißen, stünde jedem Fan auf der Gegengerade zur Verfügung. Aber 50 Zentimeter sind im Vergleich zum alten Fanhügel ganz schön wenig. De facto, wie ich seit dem Kiel-Spiel weiß, nicht nur gefühlt. Hinzu kommt: Mike aus unserem „Hoch & weit“-Podcast bestätigte am nächsten Abend meine Erfahrungen und unterlegte sie mit einer Zahl. Demnach seien die Stufen genau so tief, wie die Schuhgröße 50 lang. Das wäre ihnen beim Spiel aufgefallen. Der halbe Meter gilt also nur zur Seite, nach vorne wären es folglich nur 32 bis 33 Zentimeter. Menschen mit Übergröße oder übergroßen Füßen sind hiermit vorgewarnt.

The time is now

Je länger jedenfalls die Partie gegen Kiel dauerte, desto häufiger erinnerte ich mich an einen Albumtitel aus den Neunzigern. Moloko stürmte damals mit „Do you like my tight sweater“ die Charts. Nun, wie sah es in mir aus? „Do I like my tight Gegengerade?“ Not quite! Unweigerlich kam mir der größte Moloko-Hit in den Sinn, in dem es heißt „Bring it back.“ Oh ja, wie gerne hätte ich in dieser Hitze mitsamt der Tuchfüllung zum Vordermann die alte Gegengerade zurückgehabt. Doch vor dem Dresden-Heimspiel motivierte ich mich mit dem nächsten Moloko-Song: „The time is now“. Ergo: Keine Nostalgie, Arrangieren mit den Verhältnissen ist angesagt. Und immerhin: Wir können wieder stehen, mit einer viel besseren Perspektive als von der Nord!

 

Gut zusammengestelltes Team, gute Ergebnisse?

Fr, 30.08., 18.30 Uhr: SV Sandhausen – Darmstadt 98

So, 15.09., 13.30 Uhr: Darmstadt 98 – 1. FC Nürnberg

Fr, 20.09., 18.30 Uhr: 1. FC Heidenheim 1846 – Darmstadt 98

Sa, 28.09., 13 Uhr: VfL Bochum – SV Darmstadt 98

www.sv98.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

www.kickschuh.blog