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Foto: Darmstädter Bürgerbuch

Es gibt immer wieder Menschen, die durch Einzeltaten beweisen, dass nicht immer mit dem Strom geschwommen werden muss. Dass der vermeintliche Common Sense eben nicht immer das moralisch und ethisch Richtige ist. Ein solcher Mensch, der seine persönlichen Überzeugungen zu der Maxime seines Handelns in besonders schwierigen Zeiten machte, war der Darmstädter Karl Plagge. Er nutzte seine Machtbefugnisse innerhalb der Deutschen Wehrmacht, um Menschen vor dem Tode zu bewahren und widersetzte sich somit dem bedingungslosen Gehorsam sowie den abartigen Praktiken des Völkermords. Ein Held.

Plagge, 1897 in Darmstadt geboren, studierte von 1919 bis 1924 Maschinenbau an der damaligen TH Darmstadt. 1931 trat er in die NSDAP ein. Früh jedoch distanzierte er sich von den radikalen Gedanken und Plänen der Nationalsozialisten und pflegte riskante Freundschaften, unter anderem zu dem mit einer Jüdin verheirateten Maschinenfabrikanten Kurt Hesse, der später sein Arbeitgeber wurde. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde Karl Plagge als Ingenieursoffizier in die Wehrmacht eingezogen und leitete in dieser Position ab 1941 den Heeres-Kraftfahr-Park 562 Ost im litauischen Wilna. Hier bekam er die barbarischen Vernichtungsaktionen der deutschen Einheiten hautnah mit. Er konnte aber nicht wegschauen oder diese billigen.

Aus seinen Entnazifizierungsakten ist erkennbar, dass Plagge sich ab diesem Zeitpunkt unter großem Risiko für litauische Juden einsetzte. Unter Ausnutzung seiner militärischen Verfügungsgewalt lässt er ein Arbeitslager einrichten – wohl wissend, dass die ansässigen Juden nur durch Arbeitsdienste vor den Konzentrationslagern (KZ) bewahrt werden können. Er fordert sie als Arbeiter an und beschäftigt sie unter seiner Obhut. Des Weiteren sorgt Plagge für die Ansiedelung privater Textilfirmen, um Arbeitsplätze für die Frauen zu schaffen und er lässt auch völlig unausgebildete Arbeiter als „kriegswichtig“ einstufen, um sie vor dem Zugriff der SS zu schützen.

Somit waren diese Menschen zum einen vor der Deportation bewahrt, zum anderen ist überliefert, dass der Offizier sich um ihre Gesundheit und ihre Ernährung
kümmerte: „Damals war er einfach gut. Erst heute weiß man, dass er ein Held war“, lautet die Aussage des 74-jährigen israelischen Malers Samuel Bak, der sein Überleben dem „Darmstädter Schindler“ verdankt.

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Pogrome gab es auch in Darmstadt. Foto: „Eine Zierde unserer Stadt”, Justus von Liebig Verlag

Mindestens 250 Menschen – manche Quellen sprechen gar von 1.500 – soll Plagge so vor dem KZ gerettet haben. Als der deutsche Angriffskrieg eine Wende erfuhr und ab 1944 SS- und Wehrmachts-Schergen über das Baltikum zogen, um vor dem Eintreffen der Roten Armee alles und jeden zu vernichten, warnte er die Zwangsarbeiter. Vielen von ihnen verhalf er zudem zur Flucht, was ihn spätestens in dieser Phase des Krieges hätte das Leben kosten können, da die SS mittlerweile auch mit Wehrmachtsangehörigen rigoros und kaltblütig verfuhr.

Karl Plagge blieb aber verschont und lebte nach dem Krieg wieder in Darmstadt, wo er völlig verarmt am 19. Juni 1957 starb. Neben seiner Menschlichkeit hatte
Karl Plagge noch etwas mit dem bekannteren Oskar Schindler gemeinsam: die Selbstzweifel. Auch Plagge warf sich bis zu seinem Tod vor, nicht genug Leben gerettet zu haben. Dies könnte erklären, warum er sich in seinem Entnazifizierungsverfahren als „Mitläufer“ einstufen ließ, obwohl er von der Spruchkammer selbst als „Entlasteter“ angesehen wurde.

Doch seine Taten sollten nicht ohne, wenn auch erst posthume Anerkennung bleiben: Auf die Initiative von Überlebenden und deren Nachkommen unter Federführung
des US-Amerikaners Michael Good, dem Sohn der von Plagge geretteten Pearl Good, wurde dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier am 11. April 2005 der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ sowie ein Platz an der „Wand der Gerechten“ in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zuteil. Diese Ehrung ist die höchste, die der Staat Israel an nichtjüdische Einzelpersonen zu vergeben hat. Die Kriterien für die Vergabe dieses Titels sind recht hoch, sie beinhalten
unter anderem den Nachweis eines eingegangenen persönlichen Risikos sowie den Verzicht auf Gegenleistungen für die gewährte Hilfe.

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Die Bronzetafel zu Ehren Major Karl Plagges, gestaltet vom Darmstädter Bildhauer Ariel Auslender. Foto: Dieter Stoltenberg

Die Stadt Darmstadt ehrte ihren „Retter in Uniform“ ebenfalls in mehrfacher Weise: Vor dem früheren Senatssaal der Technischen Universität Darmstadt erinnert seit dem 18. Juni 2003 eine Gedenktafel an ihn. Parallel zur Verleihung des Ehrentitels durch Yad Vashem wurde in Darmstadt eine Gedenkfeier für Plagge eranstaltet. Darüber hinaus wurde am 10. Februar 2006 die ehemalige Frankensteinkaserne in Pfungstadt bei Darmstadt in Major-Karl-Plagge-Kaserne umbenannt, und auf dem Schulhof des Ludwig-Georgs-Gymnasiums befindet sich eine Plagge-Büste. Am 24. Januar 2008 wurde Plagge von der „Carnegie Stiftung für Lebensretter
Deutschland“ mit der Lebensrettermedaille geehrt.

Die Bedeutung seines Handelns liegt damals wie heute darin, zu zeigen, dass es eben doch möglich war, sich dem NS-Regime zu widersetzen, dass nicht bedingungslos
dem Wahnsinn des Systems gefolgt werden musste und dass durch Mut und gelebte Menschlichkeit immer eine bessere Gegenwart möglich ist. Um es mit der Inschrift der Yad-Vashem-Ehrenmedaille zu sagen: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet“.