Illustration: Johanna Schulte

Es ist Pandemie und viele Menschen verlassen den Schutz ihrer Wohnungen und Häuser nur für die nötigsten Erledigungen. So mache auch ich das – und manchmal führt mich mein Weg dann zum Luisenplatz, wo sich hin und wieder Querdenker:innen, Pandemieleugner:innen und Maskengegner:innen versammeln und via große Lautsprecher über die angeblich eingeschränkte Meinungsfreiheit sprechen und darüber, dass die Politik uns alle manipuliere. Maske tragen, um andere zu schützen? Selbstverständlich ein Instrument zur Unterdrückung! All das muss man sich anhören, wenn man mal eben zur Post oder in die Drogerie muss. Alledem kann man sich auch kaum entziehen, wenn man sich im Internet, vor allem auf sozialen Netzwerken, bewegt.

Mich macht das sauer. Verdammt sauer. Anfang Mai 2020 ist mein Vater an Corona gestorben. An, mit, wegen. Nur ein paar Hundert Meter vom Luisenplatz entfernt. Er wurde zu einer Zahl in den Statistiken, ein +1 in den Todeszahlen, die mittlerweile allein in Deutschland auf über 70.000 gestiegen sind (Stand: März 2021). Die Menschen, die nach ihrer Genesung noch lange mit den Folgen der Erkrankung zu kämpfen haben werden, stehen dabei auf einem ganz anderen Blatt.

Diese Querdenker-Aktionen, die Stimmen im Internet und auf in der Szene benutzten Nachrichtendiensten lassen mich vermuten, dass die Menschen vergessen oder verdrängt haben, dass hinter den Todeszahlen echte Menschen, echte Angehörige und echte Schicksale stehen.

Deswegen möchte ich Euch ein bisschen von meinem Vater erzählen, denn mein Vater war ein echter Mensch, dessen Leben viel zu früh endete.

Sein Name war Manfred. Er studierte in Darmstadt, was bis zu seinem Tode sein Lebensmittelpunkt blieb. Hier arbeitete er als selbstständiger Betreuer, als Sozialpädagoge im Diakonischen Werk und hat die Fachberatungsstelle Teestube und die Wohnungslosenhilfe maßgeblich geprägt. Dass dieser Beruf nicht nur ein Job, sondern Berufung war, merkte man schnell, wenn man ihn kennenlernte. Seine soziale Ader und seine Bescheidenheit machten ihn zu einem Menschen, der nach Gerechtigkeit und Chancen für alle Menschen strebte und sowohl im beruflichen als auch privaten Rahmen unzähligen Menschen helfen konnte. Sein schwarzer Humor ließ ihn auch in den schwersten Zeiten nicht im Stich. Er liebte Motorräder, unseren Hund, klassische Rockmusik, Flohmärkte, Fotografie, gutes Essen. Er war intelligent, geduldig, aufmerksam, liebe- und humorvoll – und Teil der Leben vieler Menschen.

Dann kam der letzte März. Ich werde niemals vergessen, wie meine Mutter mich vollkommen panisch und aufgelöst anrief und mir sagte, der Papa liege mit Corona im Krankenhaus. Kurz darauf wurde er auf die Intensivstation verlegt, wieder etwas später musste er beatmet werden. Niemand durfte ihn besuchen, wegen Quarantäne durfte ich nicht mal zu meiner Mutter fahren und sie unterstützen; sie hatte ihn gepflegt, bevor sein Zustand so schlecht wurde, dass sie den Krankenwagen rufen musste. Alles, was uns blieb, waren Telefonate, miteinander und mit dem Klinikum. Damit begann die fast sechswöchige Achterbahnfahrt zwischen Tränen, Verzweiflung, Tests, schlechten Neuigkeiten, einem Hauch besseren Neuigkeiten, mehr Tests, Rückschlägen und der Hoffnung, dass er es schafft. Irgendwie.

 

Gefühl der Hilflosigkeit

Die Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen des Klinikums Darmstadt, vor allem die auf der Intensivstation, waren unglaublich geduldig und einfühlsam. Damals waren die Krankenhausbetten noch nicht voll ausgelastet und wir hatten somit das sonderbare Glück, dass man sich Zeit für Gespräche und Updates nehmen konnte. Meine Mutter rief jeden Tag auf Station an, oft mehrmals. Unwissenheit ist in so einer Situation schrecklich, deswegen bin ich umso dankbarer, dass man uns immer auf dem Laufenden halten konnte und damit unser Gefühl der Hilflosigkeit linderte. Wir konnten meinen Vater zwar nicht besuchen, aber wir wussten wenigstens über alles Bescheid, und dass er in guten Händen war.

Ich verbrachte viel Zeit damit, nach Studien und Berichten zu suchen, nach irgendetwas, was darauf hoffen ließ, dass alles gut würde. Berichte aus aller Welt, die Meldungen von über Hundertjährigen, die das Virus besiegt hatten, alles saugte ich in mich auf. Meine Hoffnung, Zuversicht und den verzweifelten Glauben an ein Wunder hielt ich bis zum Ende fest.

 

Kleine Lichtblicke

Mit der Zeit wurden kleine Lichtblicke wie gesunkenes Fieber oder bessere Ventilation der Lunge in Bauchlage immer seltener, die Stimmen am Telefon ernster. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, was im Sinne meines Vaters wäre – das Runterfahren entsprechender Geräte oder das Festhalten.

Technisch hätten sie ihn trotz der schwer beschädigten Organe noch lange am Leben erhalten können. Das Virus greift Lungen, Herz und sogar Gehirn an, aber auch fünf Wochen auf der Intensivstation hinterlassen Schäden im Körper. All die Medikamente, die man geben musste, die Mittel, um ihn über eine so lange Zeit im künstlichen Koma zu halten, hatten die Nieren in Mitleidenschaft gezogen und sie drohten zu versagen. Dagegen stand eine Dialyse im Raum. Patient:innen, die lange auf eine Beatmungsmaschine angewiesen waren, müssen in speziellen Weaning-Kliniken über oft lange Zeit davon entwöhnt werden. Wir hätten seinen Körper da durchpeitschen können, mit Aussicht auf bestenfalls mäßigen Erfolg.

 

Im Ernstfall Gewissheit dank einer Patientenverfügung

Eine andere Sache, für die ich sehr dankbar bin, ist, dass meine Familie und ich uns vollkommen sicher waren, was er gewollt hätte. Unser Vater hat immer sehr offen über Themen wie den Tod gesprochen und ich kann wirklich nur allen, die das hier lesen, raten, mit ihren Lieben auch darüber zu reden und vielleicht sogar eine Patientenverfügung aufzusetzen. Im Ernstfall hat man dann wenigstens Gewissheit, dass schwere Entscheidungen im Sinne der geliebten Person gefällt werden.

Die Ärzt:innen im Klinikum versprachen uns, dass sie es möglich machen würden, uns persönlich zu verabschieden, wenn wir das wollten. Sie würden uns anrufen, wenn es so aussah, als ginge es dem Ende zu.

 

Alles verändernder Anruf

Der Anruf kam an einem Freitag, abends um 22 Uhr. Ich packte schnell meine Übernachtungstasche, denn es war ausgeschlossen, dass ich meine Mutter jetzt und die nächsten Wochen alleine lassen würde. Wir fuhren zusammen ins Klinikum, bekamen Fieber gemessen, medizinische Masken aufgesetzt und wurden zur Station geführt. Dort erklärte man uns, dass sein Blutdruck kritisch gefallen sei, sich jedoch wieder stabilisiert hätte. Man wollte uns dennoch zur Sicherheit Bescheid geben. Ich war die Erste, die zu ihm gelassen wurde. Dafür musste ich meine Schuhe wechseln und ein komplettes Set Schutzkleidung anziehen. So verpackt sah ich meinen Vater zum allerletzten Mal.

Danach war uns klar: Wir würden ihn jetzt gehen lassen müssen. Die nächsten drei Tage verbrachte meine Mutter im Krankenhaus, um die Liebe ihres Lebens beim Sterben zu begleiten. Ich war derweil zu Hause und kümmerte mich um den Hund. Montag um zwölf kam die Nachricht, dass es vorbei war.

Ich erzähle das alles, damit Euch klar wird, wie real dieses Virus ist. Stellt Euch vor, Ihr wärt an meiner Stelle, stellt Euch diese sechs Wochen vor. Stellt Euch vor, Ihr wärt an der Stelle meines Vaters, beatmet, komatös, mit wunden Stellen vom langen Liegen, allein in einem fremden Bett. Stellt Euch die Beerdigung eines geliebten Menschen vor und den Rest Eures Lebens ohne ihn. Welcher Grabstein hätte ihm gefallen, welche Urne? Was würdet Ihr sagen?

Ja, ich gebe es zu, es nervt. Ja, ein Jahr Pandemie und Selbstisolation machen einen ganz schön fertig, manche mehr als andere. Depressionen und Angsterkrankungen nehmen zu, die Situation hat in den verschiedensten Bereichen ernste Folgen. Wir wollen endlich wieder raus, wir wollen unsere Freund:innen und Familien umarmen. Wir wollen, dass alles wieder gut ist. Wie vorher wird es nicht, dafür wurden viel zu viele Leute aus dem Leben gerissen und viel zu viele werden lange mit den Folgen der Infektion zu kämpfen haben.

 

Ein neues Normal ohne Corona?

Die Welt hat sich im letzten Jahr sehr verändert und wir dazu. Damit wir ein neues Normal ohne Corona schaffen können, müssen wir uns anstrengen, tun, was wir können, damit die Menschen zum Umarmen dann auch noch da sind. Wir müssen uns weiterhin mindestens 20 Sekunden lang die Hände mit Seife waschen, Abstand halten und Masken tragen. Wir müssen bereit sein, uns impfen zu lassen, wenn wir an der Reihe sind. Wir müssen für- und miteinander arbeiten und aufhören, durch das Verweigern von Masken, Verbreiten von Fake News und all den Verschwörungstheorien Sand in das Getriebe zu werfen, das uns langsam, aber sicher auf eine coronafreie Zukunft zubewegen soll.

Wir in Deutschland sind so privilegiert. Die Impfungen bekommen wir kostenlos, Bedürftige bekommen die nötigen Masken gestellt. Damit haben wir es nicht ganz so schlecht getroffen. Wir haben gute Voraussetzungen, das alles zu meistern. Wir haben gute Voraussetzungen, dafür zu sorgen, dass so wenigen Menschen wie möglich das Gleiche passiert wie meiner Familie und mir. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was mein Vater und andere schwer Erkrankte selbst alles durchleiden mussten und ich will, dass so wenige Menschen wie möglich an dieser verdammten Krankheit sterben.

Wenn es Euch wirklich um Menschenrechte geht, dann tut dort etwas, wo es brennt. Engagiert Euch und spendet für die Seenotrettung (zum Beispiel an: Mission Lifeline e. V., IBAN: DE85 8509 0000 2852 2610 08 oder eine SMS mit „SEENOT10“ an die 81190. Von jeder SMS gehen 9,83 € an die Seenotrettung). Macht aufmerksam auf die Situation in den Flüchtlingslagern auf Lesbos, werdet laut gegen Rassismus, informiert Euch über LGBTQ+ -Identitäten und unterstützt entsprechende Vereine.

Eine Maske zu tragen, ist keine Unterdrückung, sondern eine Chance auf Leben.